Goethe 1775

Das Schicksalsjahr zwischen Werther und Weimar

Goethes letztes Frankfurter Jahr
im Spiegel zeitgenössischer Briefe und Selbstzeugnisse

Zusammengestellt und kommentiert von Christine Belz-Hensoldt

Rezension


In Stiefeln oder Samt und Seide? - Goethe 1775

Er spielt den Werther im blauen Tuch, gelben Hosen und Stulpenstiefeln genauso gut wie den Rokokokavalier in Samt und Seide. In solchem Kostüm wirbt er um Lili Schönemann, im Filzgewand wird er im Frühsommer in die Schweiz reisen. Unterwegs wird er nackt baden und an zwei Frauen denken. Schließlich hat er die Erstfassung von "Stella" hinter sich, das Drama eines Mannes zwischen zwei Frauen. Womanizer Goethe hat es in seinem Leben zwar auf einige mehr noch gebracht - und auch 1775 sieht es nach Dreien aus - die der 26-jährige verlässt. Er folgt der Einladung des Herzogs Carlm August von Sachsen-Weimar, seines 18-jährigen Freundes, an dessen Hof. Die Werther-Tracht bleibt zu Hause.

Werther nimmt in Empfang

Was geschah zwischen "Werther und Weimar", im Jahr 1775, als Johann Wolfgang Goethe ins Haus seiner Eltern in Frankfurt zurückgekehrt war? Christine Belz-Hensoldt (ehemals Lehrerin am Dilthey-Gymnasium, jetzt in Frankreich lebend) hat in liebevoller Kleinarbeit Briefe aus jener Zeit und Selbstzeugnisse zusammengestellt, kommentiert und interpretiert und ihr umfangreiches Kompendium jetzt erstmals im Saal der Casinio-Gesellschaft öffentlich vorgestellt. Daten und Charakteristiken im Buch sind akribisch gesammelt, klug aus einem Blickwinkel der Gegenwart in den Kontext des späten 18. Jahrhunderts gestellt und werden am Präsentationsabend anschaulich zusammengefasst und fürs Auge illustriert. Das "Werther"-Titelblatt der Erstausgabe nimmt in Empfang.

Goethes Briefroman war 1774 wie eine Bombe in ganz Europa eingeschlagen. Getroffen hatte sie auch das Stiftsfräulein Augusta Gräfin zu Stolberg-Stolberg im hohen Norden von Uetersen. Schwester der beiden Stolberg-Brüder, mit denen Goethe seine Fahrt in den Süden unternehmen wird und Ururverwandte von Christiane Gräfin Stolberg, die in Wiesbaden lebt und der Autorin Einblick in den Familiennachlass gewährte.

Augusta, genannt Gustgen, hatte Goethe nämlich geschrieben. Und er ihr geantwortet - schriftlich im sturmunddrängenden Werther-Furor. Leibhaftig aber verliebt er sich in Lili Schönemann, 16-jährige Bankierstochter und umschwärmter Mittelpunkt der einheimischen Großbourgeoisie. Da war er als Rosenkavalier gefragt - und das hat ihm nicht sonderlich behagt. Nahe waren sie sich ohnehin nicht gekommen - näher wohl Johann Wolfgang dem Offenbacher Mädchen Charlotte Nagel. Eine andere Charlotte wird er dann in Weimar treffen.

Aber auch Autorin Belz-Hensold kann stolz sein auf die gereichte Nähe zu ihrem Sujet Goethe 1775. Die promovierte Biologin schreibt mit stupender Kenntnis von Literatur und Kulturgeschichte, verknüpft Goethes Biografie mit seinem Werk und stellt einen jungen Mann vor, der Rollen ausprobiert und noch schwankt, welches Kostüm ihm denn am besten steht. In Weimar trägt er dann Ministerrock.

Viola Bolduan


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