Goethe 1775

Das Schicksalsjahr zwischen Werther und Weimar

Goethes letztes Frankfurter Jahr
im Spiegel zeitgenössischer Briefe und Selbstzeugnisse

Zusammengestellt und kommentiert von Christine Belz-Hensoldt

Rezension


Vor zweihundert Jahren, in den letzten September- bzw. den ersten Oktobertagen des Jahres 1816, besuchte eine bejahrte Dame aus Hannover Weimar und traf hier u.a. auch auf ihren einstigen Verehrer aus Wetzlarer Zeit. Gemeint sind Charlotte Kestner, geb. Buff, und Goethe. Daran kann in diesem Jahr durchaus einmal erinnert werden, auch an die Einschätzung des Treffens, die Charlotte ihrem Sohn August am 4. Oktober 1816 brieflich vermittelte: "Von dem Wiedersehen des großen Mannes habe ich Euch selbst noch wohl nichts gesagt: Viel kann ich auch nicht darüber bemerken. Nur so viel, ich habe eine neue Bekanntschaft von einem alten Manne gemacht, welcher, wenn ich nicht wüsste, dass es Goethe wäre, und auch dennoch, keinen angenehmen Eindruck auf mich gemacht hat. Du weißt, wie wenig ich mir von diesem Wiedersehen oder vielmehr von dieser neuen Bekanntschaft versprach, war daher sehr unbefangen; auch that er nach seiner steifen Art alles mögliche, um verbindlich gegen mich zu sein."

In dem hier vorzustellenden Buch geht es um das Jahr 1775, das auch mit jener späten Begegnung in Verbindung steht und im Leben Goethes eine maßgebliche Rolle spielte. Der "Werther"-Autor erfährt ungeahnte Zustimmung zu seinem ein Jahr zuvor erschienenen Roman, verlobt sich Ostern mit der Frankfurter Bankierstochter Anna Elisabeth (,Lili') Schönemann, unternimmt mit den Brüdern Stolberg und dem Grafen Christian von Haugwitz eine Reise in die Schweiz, löst die Verbindung zu Lili, erlebt Verwirrendes hinsichtlich einer Einladung des jungen Herzogs Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach nach Weimar und trifft, nach Auflösung des Verwirrenden, am 7. November morgens um fünf Uhr in Weimar ein. Er lernt die geistvolle, attraktive Charlotte von Stein kennen, entschließt sich zu bleiben, wird zum Geheimen Legationsrat ernannt und nimmt Quartier im Gartenhaus an der Ilm - Stoff genug also für Reflexionen der verschiedensten Art.

Der Anlass für unser Buch hängt damit zweifellos zusammen, bringt jedoch zusätzlich eine Nuance ins Spiel, die ansonsten in der Goethe-Biographik als peripher behandelt wird: der in diesem Jahr beginnende Briefwechsel von Augusta Louise zu Stolberg-Stolberg mit dem "Werther"-Autor. Eine direkte Anregung zum Buch bildete die Sammlung der Nachkommen des Dichters und Staatsmannes Graf Friedrich Leopold zu Stolberg-Stolberg, die 1999, kuratiert von Christine Belz-Hensoldt, in einer Ausstellung in Frankfurt a. M. erstmals öffentlich zu sehen war. Die Sammlung befindet sich mittlerweile im Fundus der Eutiner Landesbibliothek.

Die Briefe Goethes an die Gräfin, die gelegentlich tagebuchartige Formen annahmen, und dessen Äußerungen in "Dichtung und Wahrheit" über die 1775er Ereignisse bilden denn auch einen gewichtigen Grundstock des Buches. Ihre Briefe an Goethe sind leider, abgesehen von einer Ausnahme, einem Autodafé des Dichters zum Opfer gefallen. Deren Inhalt konnte die Autorin allerdings partiell aus erhalten gebliebenen Äußerungen der Gräfin erschließen. Eingeteilt ist das Buch in sechs Aufzüge. Ihnen werden ein Vorspiel und ein Abgesang zugesellt.

Im Ersten Aufzug wird der Leser mit Goethes Leben in Frankfurt und Offenbach konfrontiert. Er erlebt einen Dichter, der seine juristischen Arbeiten nicht eben engagiert absolviert,der häufige Besuche in Offenbach abstattet, wo Lili bei ihrem wohlhabenden Vetter Jean Georges d'Orville zu Gast ist und wo der Patriziersohn eine Rokoko-Geselligkeit erlebt, die ihn gleichermaßen fasziniert und abstößt.

Zudem erfährt er Biographisches über Augusta Louisa Gräfin zu Stolberg-Stolberg, das Stiftsfräulein aus Uetersen, eine eifrige Briefeschreiberin und enthusiastische "Werther"-Leserin. Goethe wird nie ihre persönliche Bekanntschaft machen und dennoch ein Verhältnis zu ihr entwickeln, das vielleicht mit ,platonisch liebend' umschrieben werden kann. Immerhin redet er sie in seinen Briefen mit ,Gustgen' an. Der Zweite Aufzug, "Geniereise" betitelt, beginnt mit Ausführungen über den Göttinger Hainbund und die Brüder Christian und Friedrich Leopold Stolberg. Letztere sehen in Goethe das Paradigma eines Sturm-und-Drang-Genies. Gemeinsam begeben sie sich mit ihm auf eine Reise in die Schweiz, der sich noch der Graf Christian von Haugwitz, ein Kommilitone der Stolbergs, anschließt. Alle sind sie unglücklich verliebt, lassen sich die bekannte Werther-Kleidung schneidern und tragen diese auf der Reise.

Goethe erneuert in Karlsruhe die bereits 1774 in Frankfurt geschlossene Bekanntschaft mit dem Weimarer Prinzen Carl August, lernt hier dessen zukünftige Gattin kennen und ist von ihr sehr angetan. Eine Einladung nach Weimar wird ausgesprochen und von Goethe ernsthaft in Erwägung gezogen.

Eine ganze Reihe von Begegnungen findet gelegentlich der Reise statt ? in Karlsruhe mit Klopstock, in Straßburg mit Jakob Michael Reinhold Lenz, mit Karl August von Sachsen-Meiningen, in Zürich mit Johann Caspar Lavater, Johann Jakob Bodmer und mit den Jugendfreunden Philipp Christoph Kayser, dem Komponisten, und Jakob Ludwig Passavant, dem Theologen.

In Emmendingen besucht er Schwester Cornelia - er wird ihr nicht wieder begegnen. Immerhin: Sie legt dem Bruder die Trennung von Lili nahe, weil sie ahnt, dass diese in der Enge des Milieus am Frankfurter Hirschgraben ähnlich versauern wird wie sie selbst in Emmendingen.

Die Autorin bezeichnet die gesamte Reise, wohl nicht zu Unrecht, als "eine Flucht" Goethes, "eine Flucht auch vor sich selbst" (S. 164). Bemerkenswerterweise verzichtet der Dichter während der Reise auf briefliche Mitteilungen an die Gräfin Augusta.

,Fingerzeige des Schicksals' könnte man jene Episoden benennen, die Goethe auf der Rückreise nach Frankfurt begegnen: In Straßburg zeigt ihm der berühmte Schweizer Arzt und Aufklärer Johann Georg Zimmermann einen Schattenriss Charlotte von Steins, den Goethe mit einer geradezu seherischen Bemerkung versieht, in der von "Welt", "Seele" und "Sanftheit" (S. 190) die Rede ist. Ähnliches könnte auch von der Auffrischung der Bekanntschaft mit dem Maler Georg Melchior Kraus in Frankfurt gesagt werden, der mittlerweile im Thüringischen lebt. Der macht das junge Genie auf das interessante kulturelle Ambiente Weimars neugierig. Der Dichter wertet all die ihm begegnenden "Zufälligkeiten" als "ein Zeichen" (S. 229). Dazu gehört auch das in Frankfurt erfolgte Treffen mit den Meininger Prinzen Karl August und Georg. Die hatten offenbar Ambitionen, den Dichter an ihren Hof zu holen. Ähnliche Absichten hegte auch der Weimarer Prinz Carl August, der ebenfalls dem Treffen beiwohnte - und letzten Endes der Erfolgreiche war.

Christine Belz-Hensoldts Buch bietet einen eindrucksvollen Überblick über jenes spannungsreiche Jahr 1775, in dem der junge Stürmer und Dränger um eine Entscheidung rang, die sowohl sein persönliches als auch sein berufliches Fortkommen betraf. Ein kommentiertes Personenregister erleichtert die Handhabung des Buches. Ein Sachverzeichnis und Illustrationen, auch sie teilweise kommentiert, unterstützen diese ebenfalls.

Störend wirkt, dass Zitate gelegentlich falsch wiedergegeben werden. So beispielsweise die Schluss-Sentenz von "Dichtung und Wahrheit": Da steht statt "und uns bleibt nichts, als mutig gefaßt die Zügel festzuhalten": "und uns bleibt nichts, als mäßig gefasst, die Zügel festzuhalten" (S. 258).

Dies gilt ebenso für Werk-Interpretationen, etwa Lessings "Emilia Galotti": "Emilia wird vom Vater getötet, weil ihm ihre Ehre wichtiger ist als ihr Leben, womit er in das Denken und Handeln der Zeit vor der Aufklärung zurückfällt" (S. 50f.), oder aber für folgende undifferenzierte Einschätzung: Goethe "verdammt […] den Tyrannenmord, genau so, wie er später die Französische Revolution verdammen wird" (S. 114).

Warmherzige Worte, "Zum Geleit" betitelt, vorgetragen von Jochen Golz, dem Präsidenten der Goethe-Gesellschaft in Weimar e.V., machen neugierig auf die Publikation, der er "möglichst viele verständnisvolle und wissbegierige Leser […] wünscht, die bereit sind, im Vergangenen Gegenwärtiges zu entdecken" (S. 6). Dem kann sich der Rezensent durchaus anschließen.

Hans-Joachim Kertscher


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