Goethe 1775

Das Schicksalsjahr zwischen Werther und Weimar

Goethes letztes Frankfurter Jahr
im Spiegel zeitgenössischer Briefe und Selbstzeugnisse

Zusammengestellt und kommentiert von Christine Belz-Hensoldt

Rezension


Eine der Goetheforschung bislang entgangene Geliebte

VORTRAG Christine BeIz-Hensoldt hat Liebesleben des jungen Dichters zwischen Werther und Weimar erforscht / Buchvorstellung in der Ricker'schen

GIESSEN. Nachdem Johann Wolfgang Goethe, Praktikant am Wetzlarer Kammergericht im September 1772, "bei Nacht und Nebel" die Domstadt verlassen hatte, schrieb der junge Jurist den ersten Bestseller der Literaturgeschichte. "Die Leiden des jungen Werthers" erschienen 1774 und losten unter anderem eine Modewelle in Europa aus. 1775 nahm der Dichter das Angebot an, in Weimar Minister zu werden. Einer der wenigen Zeiträume im Leben Goethes, die noch nicht komplett erforscht sind, ist das Jahr zwischen Werther und Weimar.

Christine Belz-Hensoldt, geboren in Wetzlar und inzwischen nach Frankreich verzogen, hat sich dieser Zeit angenommen. Die pensionierte Lehrerin hat Briefe, die Goethe an seine beiden Geliebten in dieser Zeit schrieb, sowie Texte von Zeitgenossen und Weggefährten des Dichters untersucht und ihre Erkenntnisse mit den Quellen in einem Buch zusammengefasst, das sie nun in der Ricker'schen Buchhandlung in Giesen vorstellte. 40 Zuhörer waren gekommen, um die neuen Ergebnisse der Goetheforschung zu erfahren. Musikalisch begrüßt wurden die Besucher durch den Giessener Harfenisten Talisien Niedecken, der die Gäste auf eine musikalische Zeitreise mitnahm. Aus der Moderne über die Romantik bis in die Sturm-und-Drang-Zeit führte der musikalische Ausflug. "Es ist normal, dass man dem Menschen, über den man schreibt, näher kommen möchte, aber es ist ganz unmöglich Goethe näherzukommen", sagte Christine Belz-Hensoldt zu Beginn ihres Vortrags, zu dem passende Bilder an die Wand projiziert wurden. Eine wichtige Quelle seien zwar die Erinnerungen, die Goethe in "Dichtung und Wahrheit" veröffentlicht habe, das Buch müsse man aber nach dem Motto "Ein alter Herr blickt auf seine Jugend zurück" als nachträglich geschontes Selbstbild betrachten, so die Autorin.

Mehrere Beziehungen

Nach dem Erscheinen des "Werthers" 1774 pflegte Goethe eine Korrespondenz mit der Sfiftsdame Augusta Gräfin zu Stolberg-Stolberg, mit deren Brüdern Friedrich Leopold und Christian Goethe er eine Reise in die Schweiz unternahm. Neben der platonischen Liebe von Ferne unterhielt der Dichterfürst eine verliebte Beziehung zu Lili Schönemann, einer 16 Jahre alten Frankfurter Bankierstochter.

"Goethe war ein Mensch, der aus dem, was er selbst erlebte, Poesie machte", so Christine Belz-Hensoldt. Seine Mutter habe dem damals 25-Jährigen jeden Morgen drei verschiedene Garderoben bereitgelegt. So habe Goethe sich je nach Stimmung im Stil seines Werthers, als Rokokokavalier oder in einem bequemen Hausanzug kleiden können. Seine Zerrissenheit zwischen den beiden Frauen habe er in seinem Schauspiel "Stella" verarbeitet, das er auch Augusta zur Begutachtung zusandte. Die Quellen wiesen aber auf eine dritte Liebschaft in diesem Jahr hin, die den modernen Goethebiografen bislang entgangen sei. So habe Goethe bei seiner Abreise nach Weimar den Scherenschnitt von Charlotte Nagel "an seiner Brust" getragen. Mit der Offenbacherin, über deren Verbleib bislang keine Quellen entdeckt wurden, habe er ein inniges Liebesverhältnis gehabt, und von ihr habe er geschrieben, dass er sie vermissen würde.

"Womanizer"

"Als Goethe in die Kutsche nach Weimar steigt, lässt die Empfindsamkeit des Werthers zurück", so Cristina Belz-Hensoldt. Außer dem Werther-Habitus lies der "Womanizer" auch drei Geliebte zurück, zu denen er in unterschiedlich inniger Beziehung stand. In ihrem Vortrag bewies die Autorin nicht nur, dass sie die Nähe zu Goethe gefunden hat, sondern auch, dass sie es versteht, die weinigen überlieferten Details richtig zu deuten und unterhaltsam zu einem überzeugenden Bild zusammenzufügen.

Von Klaus-J. Frahm


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