Benedikt Meyer

vorwärts rückwärts

Zur Geschichte des Fahrradfahrens in der Schweiz

Berner Forschungen zur Neuesten
Allgemeinen und Schweizer Geschichte Band 13


Rezension

Turbulente Fahrt durch die Jahrzehnte Die Geschichte des Velos ist die Geschichte seines Niedergangs als Massenvehikel und der Wiedergeburt als Freizeitgerät und Hoffnung im Kampf gegen den Verkehrskollaps. Zwei neue Arbeiten widmen sich der Fuß- und Zweiradkultur.

"Die Geschichte des Langsamverkehrs in der Schweiz muss noch geschrieben werden", hält die Historikerin Erika Flückiger Strebel in einem kürzlich erschienenen ViaStoria-Themenheft fest. Diese wechselvolle Geschichte des Fuß- und Veloverkehrs in der modernen Schweiz wird deshalb zurzeit am Zentrum für Verkehrsgeschichte geschrieben. Dabei wirft neben Erika Flückiger StrebeI auch Benedikt Meyer im Rahmen seiner Lizentiatsarbeit einen Blick auf die Zusammenhänge zwischen der Verkehrsentwicklung, der Massenmotorisierung und den gesellschaftlichen Umwalzungen. Das Velo sei auf "seinem Schlingerkurs durch das 20. Jahrhundert" historisch gesehen ein interessanter Seismograf und Spielball verkehrs- und sozialgeschichtlicher Entwicklungen, schreibt Benedikt Meyer. So lässt sich die Verbreitung des Velos als Massenverkehrsmittel zu Beginn des letzten Jahrhunderts mit dem Erfolg des Autos nach dem Zweiten Weltkrieg vergleichen. Bis 1936 besaß ein Viertel der Bevölkerung ein Zweirad und benutzte es im Gegensatz zu heute auch täglich oder mehrmals pro Woche. Die Fahrradindustrie war dank Massenproduktion und lnnovation in Höchstform. In diese Zeit fällt der Bau von ersten verkehrsgetrennten Velowegen, damals noch von den Automobilverbänden unterstützt. Dieser Bau kam jedoch bald ins Stocken, aus gesetzgeberischen und finanziellen Gründen, aber auch, weil das Velo zum Hindernis für die autogerechte Gesellschaft wurde. Setzten sich anfänglich Auto- und Radfahrer noch gemeinsam für asphaltierte Straßen ein, störten die Velofahrenden zunehmend den immer schnelleren und dichteren Autoverkehr. Nicht zufällig entwickelte sich der TCS vom Radfahrverband zur mächtigen Autolobby.

Niedergang

Der Zweite Weltkrieg führte zu einer kurzen Verschnaufpause in den Auseinandersetzungen unter den Rivalen. Noch 1952 rauften sich Rad- und Autoverbände zusammen und forderten gemeinsam den Ausbau von Radwegen. Statt auf lngenieurskunst setzte die Politik aber auf Juristen, welche den Velofahrenden immer engere Schranken setzten. So wurden sie von den Berner Stadtbehörden aufgefordert, auch innerhalb des Radstreifens "am äußersten Rand zu fahren", um die Autos möglichst wenig zu behindern. Außerdem wurde ein Verbot erlassen, Fahrräder über Nacht auf öffentlichem Grund stehen zu lassen. Meyer fand dazu einen lakonischen Kommentar eines Archivars: "Ich bin nur froh, dass ich kein Velo habe." Das Velo war politisch besiegt. Die rasante Entwicklung des motorisierten Berufspendelverkehrs nach 1960 besorgte den Rest. Immer mehr Schweizer Erwerbstätige begannen, täglich ihre Wohngemeinde zu verlassen, um andernorts zu arbeiten. Zwischen 1960 und 2000 erhöhte sich ihr Anteil von 23 auf 58 Prozent. Diese explosionsartige Zunahme des motorisierten Individualverkehrs forderte auf den Strassen ihren Tribut, vorab bei den Schwächsten. 1971 erreichte der Blutzoll mit 1773 Todesopfern seinen Höchststand. Mehr als die Hälfte davon waren Fußgängerinnen oder Radfahrer. Velofahren wurde lebensgefährlich. Die einstige Mehrheit der Velofahrenden wurde zu einer Minderheit - in den Strassengraben gejagt und auf die Trottoirs verdrängt.

Langsame Rückeroberung

Mit der ersten Ölkrise beginnt ein Umdenken. Die westlichen Nationen werden sich schmerzhaft der "Grenzen des Wachstums" und ihrer Abhängigkeit vom Öl bewusst. Die öffentlichen Verkehrsmittel erleben eine Renaissance, Volk und Politik verlangen eine Abkehr von der autogerechten Stadt. Im innerstädtischen Verkehr beginnt damit eine bis heute nicht abgeschlossene Rückeroberung durch den öV, aber auch des öffentlichen Raums generell. Es dauert jedoch bis in die Achtzigerjahre, bis auch das Velo wieder einen Teil seiner früheren Bedeutung zurückerhält. Nur in Basel und Winterthur brachen die Veloförderung und die Investitionen in die Infrastruktur nie ab - ein wichtiger Grund, warum diese Städte noch heute in der oberen Liga der Velostädte mit spielen. Dies gilt auch für Amsterdam und Kopenhagen: Beide Städte waren im Veloverkehr schon vor hundert Jahren führend. Schwerer hatte es da Zürich. Hier verläuft der Abschied vom Traum der autogerechten Stadt deutlich langsamer und ist schwieriger. Die Renaissance der "kleinen Königin", wie das Velo in Frankreich genannt wird, verläuft in Zürich schleppend, der Bau eines Radroutennetzes kam langsamer voran als anderswo. Symbol dafür ist der Startschuss mit einem - im Rückblick harmlosen - politischen Vorstoß in den Siebzigerjahren für eine Veloverbindung von Zürich zum Naherholungsgebiet Katzensee.

Aufbruch in den Siebzigerjahren

Damit findet hier das Fahrrad wieder auf die Straße zurück, mehr als ein halbes Jahrhundert später als in den Niederlanden, wo mit tatkräftiger Unterstützung der (staatlichen!) Veloindustrie schon in den Dreißigerjahren der Grundstein für ein weitverzweigtes Radroutennetz gelegt wurde. Das Tulpenland war deshalb nach der Ölkrise auch weit besser gerüstet für ein multimodales Verkehrsystem und investiert bis heute kräftig in die Veloinfrastruktur. In der Schweiz werden in den Siebzigerjahren landauf, landab Velo-Interessengemeinschaften gegründet. Die Gründung der ersten IG Velo in Basel fällt 1975 mit der Besetzung des AKW-Geländes in Kaiseraugst zusammen. Es ist die Zeit der Bürgerbewegungen und der politischen Aktionen. Vielerorts werden Veloinitiativen lanciert, die vom Volk jeweils mir großen Mehrheiten angenommen werden. Nur selten setzt der Gesetzgeber von sich aus eine Veloforderungs-Messlatte.

Große Würfe sind gefragt

Der Kampf um die (Neu-) Verteilung der Verkehrsflächen vorab in den Städten ist bis heute ein Dauerthema. Dabei zeigt sich gerade in Zürich der Widerspruch zwischen Wunsch und Realität. Trotz wiederholtem Volkswunsch nach einer prominenteren Rolle für das Velo bleibt es im täglichen Verkehr oft eingeklemmt zwischen motorisiertem Individual- und öffentlichem Verkehr. Mit dem Masterplan Velo soll es endlich den ihm gebührenden Platz erhalten und nicht länger auf Trottoirs und Ausweichterrains verdrängt werden, wo Velofahrende die noch schwächeren Verkehrsteilenehmer drangsalieren. Das aktuelle Flickwerk ist das Resultat fehlender rechtlicher Besserstellung wie sie der Fußverkehr zum Beispiel mit einer Verbesserung der Vortrittsrechte erfahren hat. Die ViaStoria-Historiker zeigen auf, wo die historischen Wurzeln dieser Benachteiligung liegen. Ein Veloanteil von fünfzig Prozent am Verkehrsaufkommen wie in Kopenhagen wird in der Schweiz wohl Utopie bleiben. Dafür ist die öV-Infrastruktur zu gut ausgebaut - und das soll auch so bleiben. Zunehmend überfüllte Massenverkehrsmittel und das sich nähernde Ende des Ölzeitalters bieten aber gute Voraussetzungen für eine radikale Erhöhung des Velooanteils. Investitionen ins gesunde und billige Verkehrsmittel Velo waren folgerichtig. Historiker Benedikt Meyer zieht aus der Schweizer Geschichte nüchtern und klar folgendes Fazit: "Ohne eigene Infrastruktur besitzt ein Verkehrsmittel schlechte Karten. In der Schweizer Velopolitik wird heute hier mal ein Sträßchen eröffnet, mal dort eine Ampel installiert. Dass damit die Zahl der Radfahrenden nicht zu steigern ist, kann eigentlich niemanden überraschen. Für spürbare Veränderungen bedurfte es größerer Eingriffe und damit auch größerer Investitionen. "Hier hat er aber Zweifel: "Anders als beim motorisierten und öffentlichen Verkehr fehlt es dafür beim Veloverkehr offenbar aber am politischen Willen, an Weitblick oder einfach an Mut." Die Zeit ist also reif für eine nationale Velooinitiative.

Pete Mijnssen


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