Hans Serner

Das Kehrbergische Wunderkind

Dokumentation einer Tragödie

Rezension


Mit Akribie und Leidenschaft hat der Autor Hans Serner, aufbauend auf den Forschungsergebnissen des Rostocker Kinderarztes Dr. Roland Busch, die Lebens- und Leidensgeschichte des Jungen Johann Friedrich Hohenstein aus Kehrberg in der Prignitz, dem sogenannten Kehrberg'schen Wunderkind, das nach dem Glauben und Vorstellungen der Menschen damals, und sie kamen zu Tausenden von nah und fern in diesem Jahre 1734, mittels Bestreichen oder Behauchen "allerley Übel und Kranckheyten" zu heilen vermochte, untersucht, hinterfragt und aufgeschrieben.

Dieses Buch ist Arbeit, harte Arbeit. Doch wer sich der Mühe unterzieht wird reich belohnt mit Sichten und Erkenntnissen, die, scheinbar im Dunkel einer fast 300jährigen Vergangenheit liegend, auch heute von großer Bedeutung sind. Und die Geschichte um Johann Ludwig Hohenstein ist letztlich "nur" das Vehicel zur Sichtbarmachung einer Epoche preußisch deutscher Geschichte: Die Pest hatte über Jahrhunderte das Land entvölkert, der 3Ojährige Krieg tobte und verheerte Europa, die Wissenschaften und Künste strebten nach Neuen, die frühkapitalistische Wirtschaft loste langsam die feudale und auf Leibeigentum begründete Gesellschaft ab, und doch waren die Menschen in vielen Dingen und vor allem in ihrem Denken und Fühlen, geteilt in Katholiken und Evangelische, und die wiederum in Lutheraner und Calvinisten, in der Hochzeit der Aufklarung und sogenannten Frühen Neuzeit befangen und gefangen in Gottesfurcht und Aberglaube; selbst Hexenverbrennungen waren noch nicht vorbei.

Indem die Menschen, die mit Johann Ludwig Hohensteins Leben verbunden und in seinem Gerichtsprozess involviert sind, mittels unzähliger Originaldokumente zur Sprache kommen, entsteht ein umfassendes, lebendiges Bild dieser Zeit, werden die Lebensbedingungen und die Moral- und Wertvorstellungen sichtbar und nachvollziehbar. Auch wie sich der preußische Staat entwickelte samt seines Beamtentums und dessen viel gepriesener Tugenden.

Medizinhistorisch schlägt Hans Serner in seinem Buch einen weiten Bogen von der Antike über die Zeit der Aufklärung bis zu aktuellen Themen wie Kinderarmut in Deutschland heute. Der interessierte Leser erfahrt viel Wissenswertes vom Selbstverständnis König Friedrich Wilhelm 1. als "erster Diener seines Staates", seinem Lebensweg und seinen Erkrankungen, erhält Einblicke in den Aufbau des brandenburgisch-preußischen Polizeidienstes und den Stand des damaligen Medizinalwesens. Und er erfährt, dass Psychosomatik und Ganzheitlichkeit nicht etwa heutigen Erkenntnissen entspringen, sondern ihre Wurzeln in der sogenannten "Pastoralmedizin", zum Beispiel in Person des Fürsten Alexander zu Hohenlohe, Domherr zu Bamberg, oder den Anschauungen des in jener Zeit praktizierenden Dr. Christian Weisbach haben.

Und Johann Ludwig Hohenstein? Er starb wohl im Großen Friedrichshospital im Jahre 1736 den Umständen geschuldet: Ganz voran König Friedrich Wilhelm 1., der seit seinem Medicinal-Edict 1725, welches Nicht-Medizinern das Heilen untersagte, wie Don Quichotte gegen Windmühlenflügel kämpfte, selbst schwer erkrankt, von der Gicht gezeichnet und dem Tode nahe und allen Pfuschern und Heilern abhold, die seiner geliebten Tochter, Prinzessin Charlotte Albertine, natürlich auch nicht helfen konnten, und daher nicht anders konnte oder wollte, gefolgt von den Sichten, Wirken und Glauben der Beamten, Ärzte und einfachen, auf ein Wunder hoffenden und fest an dieses glaubenden Menschen und halt den hygienischen und medizinischen Bedingungen eines damaligen "Armenhauses".

Es gäbe noch viel zu sagen zu philosophischen Aspekten im Buch, den Begegnungen mit Musikern, Dichtern und Naturwissenschaftlern dieser Zeit, der Stellung des Kindes im 18. Jahrhundert und dem Glauben.

Doch lesen Sie selbst, bringen Sie etwas Zeit und Geduld mit, da die Dokumente im Deutsch dieser Zeit einiges abverlangen.


Dipl.-Med. Detlef Reichel, Kinder- und Jugendarzt
Prenzlau im Februar 2016


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