Wolfgang Hinrichs, Markus Porsche-Ludwig & Jürgen Bellers (Hg.)

Eduard Spranger

Verstehende Kulturphilosophie der Politik – Ökonomie – Pädagogik

Originaltexte & Interpretationen

Rezension


Ebenfalls einem Symposion, dem Internationalen Siegener Spranger-Kongress 2012 entsprungen, ist diese Publikation. Sie wurde herausgegeben von Sprangerschüler Wolfgang Hinrichs, emeritierter Professor für Pädagogik der Universität Siegen, Markus Porsche-Ludwig, Professor für Philosophie und Politikwissenschaft an der Universität Hualien in Taiwan sowie Jürgen Bellers, Politikwissenschaftler an der Universität Siegen. Der Tagungsband ist zweigeteilt, wie der Titel verlauten lässt, in "Originaltexte und Interpretationen", er ist auch zweigeteilt im Sinne des "Für und Wider" zu Eduard Spranger. Das sechsseitige Vorwort verweist auf "drei Grundgedanken (...), die uns den Wert dieses Bandes auszumachen scheinen" (i) - Sprangers Sicht der Wirtschaft, der Macht/Politik und der Erziehung/Bildung.

Diese werden dargelegt auf rd. 80 klein gedruckten Seiten mit explizit ausgewählten Originaltexten aus vier bekannten Sprangerpublikationen (S. 63-145). Dies sind die "Lebensformen", die "Gedanken zur staatsbürgerlichen Erziehung", "Der geborene Erzieher" und "Der Eigengeist der Volksschule", die im Buch voneinander getrennt werden durch ganzseitige Fotos von Eduard Spranger. Bemerkenswert ist, dass es sieh um kompilierte Textfragmente handelt, heißt, dass sich die jeweils vorliegenden Dokumente aus Textpassagen verschiedener Auflagen der oben genannten Veröffentlichungen zusammensetzen; der Grund für dieses recht außergewöhnliche Vorgehen dürfte wohl gewesen sein, die maximale Aussagekraft der jeweiligen Publikation im Sinne der Herausgeber zu verdeutlich. . Die Originalschriften sollen hier nicht weiter behandelt werden; sie wurden in den vergangenen Jahrzehnten vielfach rezensiert; die Besprechung dieser Werke heute - auf der Folie der vorliegenden aktuellen Forschungsarbeiten - wäre eine reizvolle und interessante Aufgabe und sei daher einer zukünftigen Publikation vorbehalten. Zwischen Vorwort und Originaltexten findet sich eine rund 50-seitige Einleitung durch Hinrichs. Die Aussage "dass er [der vorliegende Band, AS] erstmals eine Reihe ganzer oder annähernd ganzer Kapitel mit in sich geschlossenen Gedankengängen als repräsentative Quellentexte und Auszüge aus dem großen Werk Sprangers veröffentlicht" (ii) ist insofern zu korrigieren, als Birgit Ofenbach 2002 mit der Publikation "Eduard Spranger: Kultur und Erziehung" (iii) gesammelte pädagogische Aufsätze Sprangers edierte, Sylvia Martinsen und Werner Sacher im gleichen Jahr "Eduard Spranger und Käthe Hadlich. Eine Auswahl aus den Briefen der Jahre 1903-l960" (iv) herausgaben sowie Benjamin Ortmeyer 2008 eine Sammlung mit rund 160 Beiträgen Eduard Sprangers aus den Jahren 1933 bis 1945 vorlegte (siehe unten) (v) - im Sinne der "oral history" also ebenfalls "geschlossene Gedankengänge", insbesondere im Brief-, Zeitschriften- und Zeitungsformat oder auch Vortragsskript.

Im einleitenden Kapitel begründet Hinrichs die Auswahl der Originaltexte, nimmt in einer Art textlicher Erklärungshilfen bereits mehr oder weniger die Interpretationen vor, nicht 'vorweg', wie noch zu erklären sein wird, und informiert ausführlich über die im zweiten Teil folgenden Beitrage der anderen Autoren. Immer wieder versucht der Autor den Spagat, instruierende Verbindungen zwischen Sprangers Ausführungen damals und der heutigen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und -Bildungswelt herzustellen. Dieses Unterfangen ist dadurch charakterisiert, dass Hinrichs dem Leser den Spiegel mit Spranger'schen Sichtweisen als Mahnung und Belehrung vorhält (,‚Wir Europäer und Deutschen haben versäumt, Stellung zu nehmen." (vi), dass Hinrichs Werk und Leben seines "Tübinger Lehrers" (vii), dieses an biografischen Situationen Sprangers schildernd und interpretierend allen Anfeindungen gegenüber verteidigt, dass Hinrichs sich ‚jenes Denken(s)..." nahezu trauernd entsinnt, seinen Verlust bedauert, ". . . das uns heute bitter not tut" (viii), dass Hinrichs schließlich auf der Basis der originalen Sprangertexte interpretierend dringend appelliert, "dass unser subjektives Gewissen sich selbstkritisch zum deutschen und so konkret zum deutsch-europäischen und weltbürgerlichen Kulturgewissen und zur Kulturverantwortung erweitere" (ix) - in dieser Reihenfolge. Das Beunruhigende - und je na Lesart auch Beruhigende - bei Hinrichs Einleitung ist gleichzeitig, dass sie - im Sinne Sprangers - wohl stimmig ist, insbesondere wenn man die Beiträge des Jahrbuches 2013 "Politisches Denken", die Publikation Klaus Himmelsteins "Konzept Deutschheit" (x) und auch Benjamin Ortmeyers Rechercheergebnisse "Ad fontes" (xi) als Verständnisgrundlage sieht (s.u.).

Unter der Überschrift "Zu den Interpretationen" führt Hinrichs nicht nur in die folgenden "Interpretationen" genannten sieben Beiträge ein, sondern kommentiert und interpretiert sie seinerseits vernichtend kritisch (z.B. Beitrag Weiß) bis wohlwollend sachlich.

Der zweite Teil des Buches ist den 'Interpretationen' gewidmet. Er wird eingeleitet durch einen 25-seitigen Beitrag von Wolfgang Hinrichs (S. 149-176), in dem im Rahmen des Titels "Verstehende Kulturphilosophie und Kulturpädagogik" die "Wege und Irrwege der 'Hermeneutik' und Sprangers Position" dargestellt werden. Hinrichs, das zeigt sich erneut in diesem Beitrag, ist ein versierter Kenner des Spranger'schen Werkes und kann es in den großen kulturphilosophischen Zusammenhang stellen; er holt weit aus, indem er Sprangers, Schleiermachers, Diltheys, Gadamers und - auf der anderen Seite Habermas' Denken in Polarität zwingt und mit Sprangers biografischen Implikationen in Beziehung setzt - wie es bereits in früheren Publikationen Hinrichs' angeklungen ist. (xii). Es ist eine Herausforderung an den Leser, den Gedankengängen Hinrichs zu folgen, die als Ergänzung der Einleitung gesehen werden können; es bedarf konzentrierten Nach-Denkens, Hinrichs vielschichtig konstruierte Polaritäten in Beziehung zueinander zu halten, den roten Faden nicht zu verlieren und den Überblick zu wahren. Die folgenden sechs Beiträge sind m.E. im engeren Sinne keine "Interpretationen" der im ersten Teil des Bandes vorliegenden Originalschriften Sprangers. Nur Bottländer verweist auf Sprangers "Eigengeist der Volksschule" sowie Bräuer, Weiß und Porsche~Ludwig auf die "Lebensformen". Die Abhandlungen stehen selbstverständlich mit Sprangers Leben und Werk in Beziehung, sind aber m.E. statt "Interpretationen" wohl eher als sinnvolle "Ergänzungen", wohl überlegte "Fortführungen" und gerechtfertigte "Seitenblicke" um Sprangers Leben und Werk herum zu verstehen. Gottfried Bräuers Beitrag "Ein Blick auf das Verhältnis von Eduard Spranger und Carl Schmitt" (S. 177-209) beginnt mit "Im Nachhinein sieht vieles anders aus." Bräuer vermag es, Spranger und Schmitt mit Leben und Werk in konzisen Vor- und Rückblenden in Beziehung zu setzen, ausgehend von einem Spranger an Schmitt gegebenen Fragebogen im Jahr 1945, der mehr als 30 Jahre in Schmitt fortwirkte und ihm Rechtfertigung abnötigte. Bräuer, emeritierter Professor für Allgemeine Pädagogik der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, besticht mit dem tiefsinnig durchdachten Beitrag durch die akribische Auswertung des Quellenmaterials, die sensible und unaufgeregte Wortwahl, die Offenlegung der gedanklichen Verästelungen Sprangers und Sehmitts und die ausgeglichene Wertung der Sichtweisen der beiden Antipoden bis in transzendent religiös-metaphysische Fragen hinein. Letztendlich bricht Bräuer keinen Stab weder über den einen, noch über den anderen Protagonisten, sondern kommt zum Schluss "dass man hier nur ein provisorisches Ende setzen [kann]" und dass "editorische Aufarbeitungen und Konstellationsforschungen (...) die Sicht in nicht unbedeutendem Maße noch verändern (könnten) ." (xiii)

Edgar Weis, Privatdozent der Universität Duisburg-Essen an der Fakultät für Bildungswissenschaften, zeigt im Beitrag "Eduard Spranger im Kontext seiner 'dienenden Hingabe an eine einheitlich organisierte Kollektivmacht'. Politische Optionen eines Pädagogen" auf (S. 211-234). Der Autor - dafür in der Einleitung harsch kritisiert - verweist auf den immanenten Zusammenhang von Sprangers persönlicher Einstellung zu "Macht" und "Herrschen" - dokumentiert in seinen Briefen an Käthe Hadlich - und seinem offiziellen und publizistisch geäußerten subordinierenden Bekenntnis den Staatsmächten gegenüber (xiv). Anhand reichhaltiger Zitate zeigt Weiß Eduard Sprangers (kultur)politisch nationalkonservative Einstellungen auf, konstatiert jedoch ebenso eindeutig trotz staatsaffiner Dokumente der "braunen Zeit": "Gewiss wurde Spranger, der zeitlebens keiner politischen Partei beitrat, kein Nationalsozialist im Sinne der Zugehörigkeit oder der umstandslosen Übereinstimmung mit den Positionen und Praktiken der NSDAP." Das Diktum der "Ambivalenz", das Walter Eisermann bereit zehn Jahre vorher bemerkenswert transparent in seiner Ausführung "Die Behandlung gegensätzlicher Positionen im Denken Eduard Sprangers" (xv) darlegt, kann in dem hintergrundreichen Beitrag Weißens als entscheidende Aussage gewertet werden, jedoch im Sinn einer m.E. raumorientierten Ambivalenz bei gleichzeitig feldbezogener Eindeutigkeit im Duktus der "dienenden Hingabe" an eindeutige, von Spranger selbst generierte philosophische, politische, historische, soziale etc. Muster.

Heinz-Elmar Tenorth, Professor für Historische Erziehungswissenschaft an der Humboldt Universität Berlin, thematisiert in seinem Beitrag "Paulsen als Historiker der Erziehung und seine Stellung an der Berliner Universität" (S. 235-252). Zwar ist dieser Beitrag nicht dem Siegener Spranger Symposion entsprungen. Er fand aber trotzdem Aufnahme im Band mit dem Hinweis: "Ohne Paulsen wäre von Spranger nicht die Rede, und dieser wäre vielleicht Pianist geworden, jedenfalls nicht ein Kulturphilosoph und Pädagoge dieses Formats, der über das 20. Jahrhundert hinaus die Geister für und gegen sich aufbringt.' (xvi) In Abgrenzung zu Edgar Weiß, der 15 Jahre zuvor Paulsen, Eduard Sprangers Hochschullehrer, "volks-monarchistisch-organizistische Pädagogik" (xvii) attestiert, zeichnet Tenorth aufgrund der Aufarbeitung reichhaltig vorliegenden Quellenmaterials aus Paulsens Biografie heraus ein stimmiges Bild eines unabhängigen und für das eigene Haus unbequemen Hochschulgelehrten und verkannten Bildungshistorikers von Rang, "modern und innovativ". (xviii) Der Beitrag beeindruckt durch die einfache Darstellung auch eng verwobener Zusammenhänge, durch Herausarbeiten von unterschiedlichen Personenkonstellationen in Bezug auf Paulsens akademischer Stellung sowie durch klare und klärende Darlegung der Forschungsfelder Paulsens. "Spranger als politischer Bildner und Hintergrundpolitiker der 50er Jahre" (S. 253-264) betitelt Jürgen Bellers seinen Beitrag. Bellers beleuchtet anhand eines von Spranger "mit große(r) Risikobereitschaft und Tapferkeit" geführten Gesprächs zwischen Heinrich Huebschmann und ihm aus dem Jahr 1942 paradigmatisch Sprangers Leben und Wirken als politischer Bildner. Auf der Basis von Sprangers "Gedanken zur staatsbürgerlichen Erziehung" kommt der Autor zum Schluss: "Spranger war d e r politische Bildner und intellektuelle Berater in der Etablierung einer Demokratie in der Ära Adenauer." (xix)

Markus Porsche-Ludwig, Philosoph und Politikwissenschaftler an der Universität Hualien/Taiwan, betitelt seinen Beitrag "Spranger und die Lebensphilosophie" (S. 265-313). Porsche-Ludwig holt weit aus, bevor er den Titel berührt. Ausgehend von Überlegungen zum Verständnis der Wissenschaft im Allgemeinen und über das Leib-Seele-Problem, nähert sich der Autor über Heideggers Denken sowie Humboldts, Schillers und Hegels Fragen nach dem Menschen an sich Eduard Sprangers Bildungsbegriff und der metaphysischen Deutung des Menschen. Der Autor skizziert in tiefsinnigen und fein gesponnenen Gedankengängen Eduard Sprangers lebensphilosophische Vorstellung, die weit über das persönliche, alltägliche, gesellschaftliche und politische Geschehen hinausgeht. Sie alle sind 'aufgehoben' in einem "überindividuellen Lebensgewebe" (xx) - jedoch nicht in einer sozial gedachten, sondern metaphysischen Verhaftung. Und nur in dieser Dimension wird Sprangers Bildungstheorie verständlich. Sie kann/darf deshalb erziehungs"wissenschaftlich" gar nicht nachvollzogen werden. In diesem Sinne bedauert Porsche-Ludwig, dass Spranger "in der gegenwärtigen Pädagogik explizit kaum noch eine Rolle spielt" und fügt hinzu: "Wir können über ihn reden. Cui bono? Greifen so Studenten wieder zu seinen Schriften? Kaum."(xxi)

Den Abschluss des Buches setzt Johannes Bottländer, Doktorand an der Siegener Universität, mit seinem Beitrag "Individuum und Gemeinschaft im Spannungsfeld von kirchlicher Jugendarbeit, Jugendbewegung und pädagogischem Diskurs (S. 315-380). Der akribisch recherchierte Beitrag beleuchtet die Thematik in vier Schritten: Die Definition von "Individuum und Gemeinschaft" bei den "Marianischen Kongregationen", die Darstellung dieser Bipolarität in der Umbruchszeit der Industriellen Revolution, die Beschreibung des Dissenses über die Jugendbewegung und schließlich der Blick der Sozialpädagogik im 19. und 20. Jahrhundert als Antwort auf die soziale Frage. Bottländer rekurriert in seinen Ausführungen unter dem Kapitel der Jugendbewegung und unter Bezugnahme die Meißnerformel auf drei Schriften Sprangers, auf "Drei Motive der Schulreform" (1919), "Fünf Jugendgenerationen 1900 - 1949" (1951) und den "Eigengeist der Volksschule" (1955). Spranger konstatiert 1951 im kritischen Blick auf den Freiheitsbegriff, wie ihn die Jugend auf dem Hohen Meißner am 11./12. Oktober 1913 proklamierte, dass "die explizite Überbetonung der jugendlichen Intention 'Freiheit von den Zwängen, von den Erwachsenen, von den Autoritäten' die nicht minder wichtige Klärung der Frage: 'Freiheit wozu?' (überlagerte)."(xxii) Spranger weiter: "Dieses Versteckspiel vor dem Ernst des fordernden Lebens sollte in Zukunft immer wieder eine verhängnisvolle Rolle spielen." Bottländer folgert daraus eine "an die jungen Menschen gerichtete Verpflichtung, nicht nur einem individuellen Sich-Ausleben zu frönen, sondern realitätsbezogen auf die Erlangung von Kenntnissen und Fertigkeiten hinzuarbeiten, um den Aufgaben des Alltagsvollzugs in allen Handlungsbereichen des sozialen Bedingungsfeldes gerecht zu werden" (xxiii) - wo wir, weiter gedacht, bei Weißens Beitrag "Eduard Spranger im Kontext seiner dienenden Hingabe" anknüpfen können.

Dr. Schraut