Yoshiko Oshima

Zen - anders denken?

Zugleich ein Versuch über Zen und Heidegger

2. Aufl.

libri nigri Band 2


Rezension

Versuch einer Annäherung

Obwohl ich mich seit Jahrzehnten mit chinesischer Medizin und mit Aspekten fernöstlichen Denkens befasse, stellt mich dieses Buch vor eine nahe zu unlösbare Aufgabe. Doch seine Autorin, Frau Yoshiko Oshima, erbat sich von mir eine Rezension ihres zweifellos faszinierenden Textes.

Am liebsten hatte ich mich mit einem knappen Zen-Zitat aus der Affäre gezogen, hatte dazu etwa "Der Eichbaum im Vorgarten" gesagt. Aber wer hatte das verstanden? Deshalb will ich weiter ausholen, um mich so dem Phänomen Zen zu nähern. Wenn ich da bei Glück habe, mag es einigen Lesern so gehen wie dem Zuhörer nach einem Vortrag von Frau Oshima über ihr Thema; er sagte: "Ich habe nichts verstanden, aber unendlich viel dazu gelernt!"

Etwas mit Zen Vergleichbares gibt es in der abendländischen Tradition überhaupt nicht. Denn Zen kennt nicht die westliche Trennung von Materie und Bewusstsein. Diese Trennung, die das westliche Denken geprägt hat, existiert für Zen nicht. Das macht es für die modernen Abendländer so schwierig, Zen überhaupt zu verstehen.

Der Abendländer wird unter anderem durch das methodisch einengende moderne westliche Denken daran gehindert. Letzteres gilt es also zu überwinden.
Eine diesbezügliche Befreiung des abendländischen Denkens hat es durch die Erkenntnisse der Neuen Physik (Quantenphysik) gegeben, die unter anderem nicht mehr der Trennung von Materie und Bewusstsein unterliegt. Der Quantenphysiker und Träger des Alternativen Nobelpreises für Physik, Professor Hans-Peter Dürr, hat hierzu sinngemäß Folgendes geäußert:
Die Neue Physik (Quantenphysik) erklärt, dass Materie nicht aus Materie aufgebaut ist. Das primäre Phänomen ist Beziehung; Materie ist nur ein sekundäres Resultat. Materie ist kristallisierte Form [1 - 7]. Am Ende der Teilung von Materie in kleine und immer kleinere Teilchen bleibt etwas übrig, das dem Geistigen ähnelt: Es ist ganzheitlich, offen und lebendig; es ist Potenzialität, die Kann-Möglichkeit einer Realisierung. Materie ist hingegen nur die Schlacke dieses Geistigen - zerlegbar, abgrenzbar~ determiniert: Realität (von lat. res, die Sache). Im Grunde gibt es aber nur den Geist.

Doch dieser Geist "verkalkt", und er wird, wenn er verkalkt, zu Materie. In der Quantenwelt gibt es so etwas wie Materie überhaupt nicht. Materie bildet sich erst als "Als-ob"-Erscheinung bei größerer Anhäufung atomarer Gestaltwesen auf einem räumlich höheren Niveau heraus. Materie ist somit für die Quantenphysik ein "illusionäres" Phänomen, etwas, das die volle Realität der Welt verschleiert. Die deutsche Sprache nennt Realität "Wirklichkeit"; das ist etwas, das arbeitet, sich bewegt, wirkt und lebt [5]. Das angelsächsische reality ist davon verschieden!

Materie ist wie der geschlossene Vorhang vor einer Theaterbühne, auf der die wirklichen Dinge dahinter passieren. So gesehen, ist das "Objektivierte" in der Betrachtungsweise der westlichen Wissenschaft, d.h. der Alten Physik, eher eine Verschleierung der eigentlichen, d.h. der ganzheitlichen und vollen Wirklichkeit.
Werden die üblichen Diagnosen der orthodoxen westlichen Medizin unter solchen Aspekten betrachtet, müssen sie einem wie Maskeraden vorkommen: Sie verschleiern die medizinische Wirklichkeit mit Wort-Attrappen, welche aus der Sicht des Ganzen bedeutsamere innere Abläufe und wirksamere pathophysiologische Veränderungen im Menschen verhüllen und verdrängen. Solche Abläufe und Veränderungen stehen unter anderem im Mittelpunkt der sogenannten chinesischen Syndrom-Diagnosen (Bian-Zheng) [8]. Die orthodoxe westliche Schulmedizin bezeichnet solche Syndrome aus purer Ignoranz als "unwissenschaftlich". Der differenzierte Zeitablauf des inneren Gleichgewichts, der Chinas Medizin kennzeichnet, bleibt bei den starren westlichen Diagnosen auf der Strecke.

Er wird von orthodoxen Medizinern einfach ignoriert, mystifiziert oder als unsinnig dargestellt. Das führt dazu, dass Männer und Frauen, die unterschiedlichen physiologischen Abläufen unterliegen, bedenkenlos und stereotyp mit denselben chemischen Medikamenten behandelt werden, was natürlich nicht logisch sein kann, weil hier nicht nach der Logik der Natur therapiert wird, sondern nach einem starren Schema, das zur Natur keine Beziehung mehr hat.

Dem chinesischen Arzt erscheinen demgegenüber viele westliche Diagnosen wie oberflächliche Täuschungen. Beispiele dafür sind: Hepatitis, Gastritis, Bandscheibenvorfalle, Diabetes mellitus, Migräne usw., die mittels chinesischer Diagnostik und Therapie kritisch analysiert, pathophysiologisch enthüllt und ganzheitlich richtig behandelt werden könnten. Warum ist das so?
Die Logik der Natur, der die Neue Physik folgt und die ein guter Arzt kennen sollte, bleibt bei den meisten westlichen Diagnosen unberücksichtigt. Deshalb können viele Krankheiten nicht mit westlicher Medizin, und sei sie technologisch noch so perfekt, adäquat diagnostiziert und erfolgreich angegangen werden. Deshalb gibt es in der westlichen Medizin unerwünschte Nebenwirkungen. Die moderne Pharmakologie behauptet zwar, es gebe keine medizinische Wirkung ohne Nebenwirkung. Doch ist das nur so, weil der unzulängliche Ansatz der orthodoxen westlichen Heilkunde, welcher die natürliche Logik des menschlichen Organismus nicht versteht, zugrunde gelegt wird. Hier liegt die Domäne der chinesischen Medizin, die nahezu nebenwirkungsfrei ist, und dies deshalb, weil sie näher an der Neuen Physik, der Quantenphysik, und damit an der Wirklichkeit liegt als die orthodoxe Heilkunde. Damit ist sie näher an der Wirklichkeit. Sie entspricht, wie gesagt, der Logik der Natur.

Die kleinsten Teilchen der Neuen Physik sind viel kleiner als Atome, Atomkerne, Elektronen und Neutronen. Solche Teilchen sind, wie gesagt, nicht materiell: Sie arbeiten, sie bewegen sich, sie leben. Diese kleinsten Teilchen können nach Professor Dürr als "happenings" beschrieben werden; sie sind winzige Artikulationen der Wirklichkeit [5]. Sie sind ein Feld von Information, das nicht in Materie und Energie aufgespalten ist. Dieses Feld von Information besteht nicht bloß innerhalb eines jeden lebenden Wesens, es reicht so weit wie der gesamte Kosmos, und dieser Kosmos ist ein Gesamt-Ganzes. In der chinesischen Tradition wird das mittels SHEN (Lingshu fing, Kapitel 1) und als DAO ausgedrückt [9].

Die Quantenphysik sagt: Die Welt ist ein Ganzes, und ihre Realität (d.h.: ihre Wirklichkeit) ist eine unendliche spirituelle Verbindung. In der subatomaren Welt der Quanten gibt es keine Objekte, keine materiellen Dinge, keine Substanzen; in ihrer Sprache gibt es keine Substantive. Es gibt nur Bewegung, Prozesse, Verbindungen und Information (das erinnert an den Satz des vorsokratischen Philosophen Heraklit (550 - 500 v. Chr.), nach dem "wir nie in denselben Fluss steigen können",, weil eben "Alles fließt" [10 - 12]). Das volle Verständnis der Quantenphysik enthält keine Möglichkeit, die Welt in lauter Teilchen zu zerlegen. Denn die kleinsten subatomaren Teilchen verhalten sich wie Wellen, und diese Wellen verhalten sich wie Teilchen. Es ist kein Unterschied zwischen beiden feststellbar.

Dieses dualistische Prinzip wurde 1927 von Werner Heisenberg "Unschärferelation" (engl. "uncertainty relation" oder "blur relation") genannt, und eben diese Unscharfe zeigt den Ursprung des Lebendigen an. Esist ein universeller Code, der auf Information beruht [4, 5]. Das hat eine Parallele zum dualistischen Prinzip des Yin-Yang J~P* in der chinesischen Tradition.

Wir finden eine solche Unschärfe in der Struktur der chinesischen Syndrome (Bian-Zheng) wieder, wo ein Syndrom durch ein anderes ersetzt werden kann oder mehrere Syndrome gleichzeitig aktiv sein können; das ist nicht "exakt" oder "genau", sondern fließend, weil es auf dem Ganzen beruht (grammatikalisch ist das Schriftzeichen Bian kein Substantiv, sondern ein Verbum - meine Übersetzung mit "Syndrom" ist also ungenau [8]; richtiger sollte es heißen "einen Krankheitszustand differenzieren").

Sicherheit (engl. certainty) kann in eine Bian-Zheng-Diagnose nur sekundär projiziert werden, was in der chinesischen Medizin bereits im Altertum durch akzidentielle Strategien wie Anatomie, Embryologie, Kräuter-Rezepturen, Akupunktur-Techniken,Zungen- und Pulsdiagnostik geschehen ist und was in unserer Zeit zusätzlich durch moderne Technologien, aber auch durch Methoden der orthodoxen Medizin, die durchaus brauchbar und notwendig sind, erfolgt. Dies wird heute außerdem mit nur scheinbar wissenschaftlichen Untersuchungen nach der sogenannten "Evidence Based Medicine" (EBM) versucht, wo bei die Vernachlässigung des lebendigen Ganzen als logischer Grundfehler stillschweigend in Kauf genommen wird. Die EBM beruht auf einem ganzen Bündel logischer Irrtümer, was ich unter anderem in meinem Beitrag "Wissenschaftstheoretische Bewertung der chinesischen Medizin und Akupunktur" dargestellt habe [13 - 16].

Der grundlegende Welle-Teilchen-Dualismus zeigt, dass es unsinnig ist, die Welt rein "physikalisch" erklären zu wollen, indem man sie auf materielle Dinge, auf Bewusstsein oder auf Energie reduziert.
Realität (zu Deutsch: Wirklichkeit) ist im Verständnis der Quantenphysik gar keine materielle Sache, es ist, wie gesagt, Potenzialität, Möglichkeit. Materie ist somit eine Art Zaubertrick, der in unserer begrenzten menschlichen Wahrnehmung begründet liegt. (Letzteres ähnelt der buddhistischen Lehre von Maya). Denn unser modernes menschliches Gehirn ist nicht darauf trainiert, die Neue Physik unmittelbar zu verstehen.

Wir halten fest: Es gibt nur ein einheitliches Ganzes. Mensch und Natur sind nicht voneinander getrennt; beide sind vielmehr in Wahrheit ein einheitliches Ganzes.
Wir finden eine ähnliche Auffassung in Aristoteles' Werk über die Physik, das zum Ausgangspunkt aller späteren logischen Folgerungen und wissenschaftlichen Errungenschaften des Abendlandes geworden ist (15,17). Aristoteles nennt die Natur Physis, das ist ein Ganzes. Descartes versuchte im 17. Jahrhundert, die Welt in Materie und Bewusstsein zu zerlegen, ein Irrtum, bei de der Philosoph einer vordergründigen Genauigkeit nachjagte, die es in der Natur nirgends gab, deren Gespenst aber in den Köpfen moderner Menschen verwirrend herumspukt. Es gibt heute keinen wissenschaftlichen Grund mehr für eine Erklärung der Welt durch ihre Reduktion auf Materie oder materielle Dinge. Denn das wäre die Alte Physik. Die Logik der Quantenphysik, d.h.: der Neuen Physik, ist dagegen die Logik der Natur.
Wegen der genannten Zusammenhänge empfehle ich den Adepten der chinesischen Heilkunde die gründliche Lektüre des Werkes "Zen - anders denken" von Yoshiko Oshima, um so einen Zugang zur chinesischen Medizin und damit zum traditionellen medizinischen Denken des Fernen Ostens zu finden.

Claus C. Schnorrenberger, Basel


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