Hartmut Buchner

Heidegger und Japan - Japan und Heidegger

Vorläufiges zum west-östlichen Gespräch

Herausgegeben von Freunden des Verfassers

libri nigri Band 25


Rezension

Zeit-Spiel-Raum

Ein Versuch anlässlich von Hartmut Buchners Überlegungen zu Martin Heidegger*

"Es gibt Zeit!"
"Es gibt Raum!"
"Es gibt Spiel!"

Dieser dreifach getönte Stoßseufzer überrascht uns gelegentlich mitten im drangvollen Alltagsgeschäft. Unverhofft hat sich ein Zeitspielraum aufgetan, der in der tagtäglichen Zeit- und Raumplanung bis dahin gar nicht existierte. Wie aus dem Nichts gibt es ihn plötzlich. Der Stoßseufzer lässt uns tiefer Atem holen; lässt einen Windschatten im Strom entstehen: Raum für Gelassenheit. Mit der unverhofften, mithin unverdienten Gabe des "Es gibt..." stellt sich eine fast unwillkürliche, quasi amoralische Dankbarkeit ein. Je drangvoller der Betrieb des Alltags, desto wundersamer die Gabe des "Es gibt...".

1.

Was wir hier mit Heidegger Zeitspielraum nennen, ist - sofern erfahren - ein Phänomen. Es ist in der Weise eines Stoßseufzers hervorgerufen; also durch einen Ruf und keineswegs durch eine (diskursive) Aussage. Ein Phänomen, wird es erfahren, kann auf Anhieb nur erstaunen. Es kann freudig erschrecken. Freude und Erstaunen liegen untrennbar der Ehrfurcht zugrunde. Das durch einen Ruf: eine Sage evozierte Phänomen lässt sich diskursiv, also durch Aussagen, nicht erklären. Deshalb ist der folgende Satz auch kein Erklärungsversuch für das durch den Stoßseufzer hervorgerufene Phänomen des unverhofft sich auftuenden Zeitspielraums: Indem der Tod kommt, entschwindet er. Hartmut Buchner zitiert diesen Satz Heideggers an - wie mir scheint - einer zentralen Stelle seiner Überlegungen. Wir verzichten aber vorerst auf eine Interpretation dieses Satzes und folgen den Hinweisen, die Buchner zunächst von Sein und Zeit her gibt. Mit Bezug auf §53 Sein und Zeit, der sogenannten Todesanalyse, nennt Buchner den hier Zeitspielraum genannten Raum einen Raum der reinen Möglichkeit. Reine Möglichkeit unterscheidet sich von den optionalen Möglichkeiten des gewöhnlichen Betriebs dadurch, dass sie unüberholbar ist. Jede gewöhnliche Möglichkeit ist mit ihrer Verwirklichung, worauf sie per se tendiert, überholt. Die Möglichkeit des vom Tode her durchstimmten Raumes bleibt dagegen reine Möglichkeit. Der Tod ist nicht ihre Verwirklichung: er steht dem Seinverständnis immer nur bevor. Er bleibt im Kommen und bleibt daher immer nur möglich.

Die gewöhnliche Tendenz, Mögliches zu verwirklichen, vernichtet die Möglichkeit durch Verfügbarmachung.
Im Sein zum Tode dagegen [...] muss die Möglichkeit ungeschwächt als Möglichkeit verstanden, als Möglichkeit ausgebildet und im Verhalten zu ihr als Möglichkeit ausgehalten werden. 1) Im Vorlaufen in die Möglichkeit nähert sich das Dasein dem Möglichen; taucht mit der Nähe des Möglichen nicht seine Verwirklichung auf? In dieser Näherung [...] wird die Möglichkeit des Möglichen nur größer. Die nächste Nähe des Seins zum Tode als Möglichkeit ist einem Wirklichen sofern als möglich. [Und somit ist] der Tod die Möglichkeit der Unmöglichkeit jeglichen Verhaltens zu... 2) Zu einem Möglichen in seiner Möglichkeit verhält sich das Dasein jedoch im Erwarten 3). Wenn jegliches Verhalten zu ... eigentlich unmöglich ist, so müssen wir die Verhaltensweise im Erwarten ein Verhalten vor ... nennen. Die Weise von Verhalten, die dem Aushalten des Möglichen; besser: dem Aufenthalt im Raum der Möglichkeit entspricht, ist ein Verhalten vor ...‚ womit dem Wortsinn von Verhalten i.S. der Verhaltenheit besser entsprochen wird als mit einem Verhalten zu...

2.

Buchner erkennt in dem hier skizzierten, in Sein und Zeit entworfenen Raum der reinen Möglichkeit die Urszene aller von Heidegger später entworfenen Raumbegriffe, wobei Raum m.E. szenisch, d.h. als Zeitspielraum zu denken ist. Dazu unten mehr. Die zitierte Stelle aus Sein und Zeit unterscheidet noch nicht explizit zwischen Verhalten zu ... und Verhalten vor ... . In der Abweisung eines Verhaltens zu der reinen Möglichkeit des Todes ist aber der im Spatwerk häufig bedachte Verhaltensbegriff i.S. der Verhaltenheit impliziert schon gemeint. In der ausdrücklichen Herausarbeitung eines Verständnisses des Verhaltens vor ... liegt nun nach Buchner die vielberufene Kehre auf dem Denkweg Heideggers. Ist in Sein und Zeit das Vorlaufen in den Tod noch als intentionale Leistung des Daseins verstanden (wodurch das Dasein noch Züge des Subjekts aufweist), so wird nach Buchner solches Vorlaufen im Spätwerk umgedacht in eine Ontologie der Sterblichkeit. (Hier spricht Heidegger - so wie die Griechen - von den Menschen als den Sterblichen beinahe beiläufig, fast schon konventionell.) Das Verhalten vor ... (der Möglichkeit des Todes) im Modus des Erwartens ist jetzt bestimmend. Nicht mehr ein intentionales Vorlaufen, sondern ein retentionales 4) Verhalten und Verhoffen durchstimmt jetzt den Zeitspielraum der reinen Möglichkeit. Nicht mehr das Vorlaufen zum Tode hin‚ sondern die Stimmung von ihm her durchschwingt den Raum; besser: erspielt das Spiel, das den Spielraum allererst ergibt. Dies Ergebnis (Ereignis) zeigt sich als die Gabe des Es gibt. (s.o.) Wie Heidegger zitiert auch Buchner mehrfach die Zeilen aus Hölderlins Hymne Mnemosyne:

... Nicht vermögen
Die Himmlischen alles. Nemlich es reichen
Die Sterblichen eh' in den Abgrund. Also wendet es sich
Mit diesen. Lang ist
Die Zeit, es ereignet sich aber
Das Wahre.

Auch Hölderlins In-den-Abgrund-Reichen wäre wohl umzudenken in ein Reichen-vom- Abgrund-her. Im Herreichen und Herrühren kann der Zeitspielraum, den es durchmißt, "größer", d.h. weiter werden. Im bloßen Hinreichen würde er, wie meist erfahren, enger und somit angsterregend und düster. Im Zuge des Weiterwerdens lichtet sich die Szene. Die Lichtung im verbalen Sinn des Sich-Lichtens durchstimmt die Szene, die so selbst mit verbal-vollzugshafter Implikation sich zu denken gibt: Szene als Ereignis (Urszene). Wenn Heidegger gelegentlich - scheinbar lapidar - von dem Bereich spricht, so ist auch hier an das zeiträumlich einheitlich szenische Spiel des Reichens zu denken. Um die szenische Stimmung zu betonen, konnte von Erreichnis gesprochen werden. Erreichnis zeitigt das Ergebnis des "Es gibt!". Der Zeitspielraum kann nicht als gegeben vorausgesetzt werden: er ergibt sich: räumt sich ein im Spiel des Erreichens 5). In einunddemselben Zuge zeitigt die Szene des Erreichens. Die auch hier aus sprachlicher Not erzwungene kategoriale Trennung zwischen ("zeitlicher") Szene und ("räumlicher") Szenerie spielt der Sache nach bei solch einräumender Zeitigung/ zeitigender Einräumung keine Rolle. (Auch dies ist noch eine unbeholfene, dualistische Formel). Langmütig musste das Denken und Sagen dem Sachverhalt zu entsprechen lernen.

3.

In einem Nachwort zu dem Vortrag Das Ding ist der Brief Heideggers an einen jungen Studenten abgedruckt. Dieser Brief ist an Hartmut Buchner gerichtet. Dort heißt es: Alles ist hier Weg des prüfend hörenden Entsprechens. Weg ist immer in der Gefahr, Irrweg zu werden. Solche Wege zu gehen, verlangt Übung im Gang. Übung braucht Handwerk. Bleiben Sie in der echten Not auf dem Weg und lernen Sie un-entwegt, jedoch beirrt das Handwerk des Denkens. Zwischen der Interpretation des §53 Sein und Zeit und Heideggers Ding-Vortrag spannt Buchner in seinen Überlegungen einen Bogen. Im Ding-Vortrag geht es um das Geviert. Dazu sagt Buchner: Also: die vier Gegenden des Weltgevierts vermögen erst und nur dann aufzugehen und zu walten, d.h. jetzt spiegelnd und spielend zu versammeln, wenn der Ort ihrer Einfalt in sich [...] eine Verwindung des Seins vollbringt bzw. je schon vollbracht hat.
Diese wie andere Stellen, so Buchner, wiesen uns zuerst einmal in eine große Beirrung. Auch dieser Versuch, der sich um einen Leitfaden in den Buchnerschen Hinweisen bemüht, kann nicht verleugnen, dass er sich in großer Beirrung bewegt. Buchner nimmt Heideggers Satz besonders ernst, wonach es notwendig sei, Sein inskünftig als Seyn (durchkreuzt) zu schreiben. Wie die Metaphysik müsse auch das Sein verwunden werden. Das Zeichen der Durchkreuzung [des Seyns] kann nach dem Gesagten allerdings kein bloß negatives Zeichen der Durchstreichung sein. Es zeigt viel mehr in die vier Gegenden des Gevierts und deren Versammlung im "Ort der Durchkreuzung". (Unterstreichung von Buchner)
Das Geviert lässt die Weitgegenden durchgängig begegnen, weshalb es die Gegend heißt. (Auch diese wieder szenisch, nicht bloß räumlich gedacht.) Durchgängig begegnen sich die Weltgegenden (Himmel, Erde, Götter, Menschen), weil die Mitte des Gevierts - im gelingenden Fall- offen ist.
Buchner: Dann waren die Sterblichen jene, die den Tod in sein Wesen freigeben können. Und was wäre der in sein Wesen freigegebene Tod? Kurz, aber auch missverständlich und selbstverfänglich gesagt: Die reine Offenbarkeit des Nichts - wobei "das Nichts" freilich nicht etwa der Gegenstand der Offenbarkeit wäre, sondern die Offenbarkeit selbst, [...] In diese Erfahrung müsse das frühere Vorlaufen zum Tode umgedacht werden. Dass die Lichtung nicht ohne weiteres Seiendes entbirgt, sondern allererst Lichtung für die Verbergung ist; dass die reine Offenbarung das Offene selbst entbirgt - und sonst nichts, - dies zeigt an, wie der Selbstentzug des Seins qua Durchkreuzung sich zu denken geben konnte. Der Selbstentzug des Seins zugunsten der reinen Offenbarkeit/ des Nichts lässt das Freie sich auftun, in das die Weltgegenden freigegebenen werden können: in ihr Wesen freigegeben. Das Sein entzieht sich zugunsten von Welt, indem es die Mitte des Gevierts freigibt, damit die Weltgegenden sich durchgängig (unbehindert durch Seiendes) in ihrem Wesen begegnen können - und zwar spielend.
Indem der Tod kommt, entschwindet er; heißt es in den Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung. Entschwinden heißt nicht verschwinden, sondern In-die-Ferne rücken/entrücken. Indem der Tod entrückt, kommt er auf die seinem Wesen gemäße Weise (wird in sein Wesen befreit). Dieses (Ent-) Fernungs-Näherungsspiel (man könnte es auch das Spiel der Aura nennen) deutet an, wieso der Zeitspielraum vom (szenischen) Spiel her zu denken ist.
Gelingt das szenische Spiel anfänglich, so kommt es der kategorialen Trennung von Zeit und Raum zuvor. Erst als Spiel kommt der Zeitspielraum dieser Trennung zuvor. Dann wird Nähe weder bloß zeitlich, noch bloß räumlich erfahren. Zugleich ist die Trennung von Nähe "und" Ferne gegenstandslos geworden. Das Spiel des Zeitspielraums ist auratisch, insofern es als Nahfeme/Fernnahe, d.h. be-entrückend erfahren wird.
Indem der Tod entrückt und so das Spiel eröffnet, gibt er die offene Mitte frei für sein wesentliches, eigenstes Kommen. Imselben Spiel gibt er die Sterblichen frei für ihre eigenste, vom Abgrund her bestimmte Möglichkeit, d.h. in ihr wesentliches, eigenstes Seinkönnen als Sterbliche.

Wie bei den Griechen heißen die Menschen: die Sterblichen, weil sie den Tod in dieser Weise als Tod vermögen, d.h. ihr Seinkönnen von der äußersten, unüberholbaren Möglichkeit her bestimmen lassen können. Die durch Seinsentzug freigegebene Offenbarkeit der Weltmitte (die das Entgegnen von Tod und Sterblichkeit, d.h. ihr Erreichen und Ereignen in ihr je eigenstes Kommen und Seinkönnen ermöglicht) erweist den o.g. Raum der reinen Möglichkeit als Raum reiner Offenbarkeit.
Buchner: Was hier Offenbarkeit heißt, kennen wir von Heidegger in mancherlei Wendungen: als Unverborgenheit (aletheia), als Lichtung, die Lichtung für das Sichverbergen, als das Da, als die offene, freie Weite, das Offene, die Offenheit, die Wahrheit des Seyns, die Leere, die Gegnet, die Neigungsgegend und anderen Wendungen. Grundworte also in einem Reichtum, der schier unerschöpflich und unermesslich ist. Sich in einem solch unermesslichen Raum zu bewegen, bedarf es wahrlich der Bereitschaft zur Irrnis.
Das Grundwort der Leere wurde für Buchner wohl besonders bedeutsam. Denn in der Leere zeigt sieh die Verwandschaft des heideggerschen mit dem ostasiatischen Denken. Buchner wurde, so darf man sagen, von Heidegger zu Keiji Nishitani nach Kyoto geschickt, nachdem Nishitani Heidegger in Freiburg besucht hatte.

4.

Keiji Nishitani war Nachfolger von Kitaro Nishida. Wie Nishida war Nishitani Gelehrter, d.h. er kannte die akademische, meist westliche Philosophie.
Zugleich war Nishitani geübter zen-buddhist. Sein opus magnum mit dem deutschen Titel Was ist Religion? veruscht, die Übung des Zen in westliches Denken einzuführen. Hier kam ihm das Denken Heideggers wie kein anderes entgegen.
Hartmut Buchner hielt sich von 1958 bis 1962 meist in Kyoto auf. Er konnte, wie er einmal sagte, Nishitani tags und nachts aufsuchen. Ende der 80er Jahre las er dann im Kreis junger Leute das inzwischen ins Deutsche übersetzte Buch Nishitanis - so beirrt, wie heidegger es ihm geraten hatte. So habe ich, als ich an der Lektüre einmal teilnehmen durfte, es jedenfalls erlebt.
Die deutsche Übersetzung von Was ist Religion? ist von der englischen angefertigt worden. Nishitani, der Deutsch konnte, hat die deutsche Übersetzung allerdings begleitet. Dennoch gibt es bei der Lektüre unüberwindlich scheinende, philologische Probleme. Buchner gestand einmal, dass auch seine Japanisch-Kenntnisse nicht ausreichten, die Zuverlässigkeit der Übersetzung an wichtigen Stellen zu überprüfen.

Hartmut Buchner hat sich in dem hier zu besprechenden Band nicht explizit auf Nashitani bezogen. Ich meine aber, dass die Reihe der heideggerschen Raumbegriffe, wie sie in den vorigen Abschnitten skizziert wurde, durch Buchner vom Feld der Leere (sunyata) her, des meines Erachtens zentralen Begriffs bei Nishitani, entworfen wurde.

Auf die oben zitierte reine Offenbarkeit des Nichts kam es meines Erachtens Buchner an.

Der heideggerschen Rede vom Selbstentzug des Seins (Das Sein stellt sich selbst mit Vergessenheit nach) qua Selbstdurchkreuzung entspricht bei Nishitani der Durchbruch auf das Feld der Leere. So wie bei Heidegger die Durchkreuzung nicht bloß durchstreicht, sondern öffnet, so tendiert bei Nishitani der Durchbruch auf den Boden der bloßen Soheit der Dinge. Wäre auch eine Übersetzung in nackte Daßheit zulässig?

Nach Rilke sind wir befangen in der gedeuteten Welt. Alles ist mit Bedeutung beladen und besetzt; schlimmer noch: mit Werten. Alle Deutungen, alle Metaphern, Bilder und Sinngebungen, alle kausalen Begründungen fallen im Durchbruch ab. Eine Rose ist eine Rose- ohn warum? (Angelus Silesius)
Lichtet sich die mit Deutungen verstellte, zugestellte Welt, so vollzieht sich Lichtung als Nichtung: als Lichtung für die Verbergung. Das Sein entzieht sich zugunsten solcher Entleerung: der Offenbarung reiner Offenbarkeit; zugunsten der Einräumung/Zeitigung des reinen Raums der nackten, leeren, sinnfreienDaßheit. Jetzt zeigt sich eine Gunst des Entzugs, die nichtet ohne zu vernichten. Jetzt erst kann das Erstaunen: dass überhaupt etwas ist und nicht etwa nicht! einsetzen. Solcher Gunst mag sich die o.g. Gabe des "Es gibt..." verdanken. Jetzt wird die Daßfrage nicht länger von der Wasfrage (TÍ TÓ OV?) verstellt. Jetzt ist der Vorrang der Essenz vor der Existenz gebrochen. Und jetzt kann solcher Gunst die Gebärde der Dinge entsprechen. Welt gönnt Dinge/Dingegebärden Welt, heißt es einmal sinngemäß bei Heidegger. Das szenische Spiel von Gunst und Gebärde räumt sich seinen Zeitspielraum ein, indem die Szene ihr Spiel zeitigt.
Mag sein, dass hier eine westliche Denkhaltung vorschnell auf einen positiven Boden zurückdrängt; dass die östliche Tendenz zum Durchbruch auf ein absolutes Nihilum vorschnell abgebrochen wird; so wie wir westlichen Intelektuellen, sollten wir je das Zen zu üben versuchen, die Übung meist vorschnell abbrechen.

Hartmut Buchner, so schien mir, war gegen solch vorschnelle Abbrüche gewappnet wie niemand sonst. Er schien sich im Feld der Leere aufhalten zu können. Es mit ihm, wenn er schwieg, auszuhalten: damit fing die Übung schon an. Wer Heideggers Frage Was heißt Denken? ernst nimmt, muss, so scheint mir, mit solcher Übung anfangen. Jene, die Buchner kannten, wussten, mit wieviel Skrupel er schrieb. Lieber hätte er wohl nicht geschrieben - und sich darauf beschränkt, in kleinen Kreisen wichtige Passagen wieder und wieder zu lesen - den Kosmos aller wichtigen Passagen vor dem wachen Andenken. Den Vorträgen, die in dem hier zu besprechenden Band gesammelt sind, sind, wie mir scheint, die Skrupel des Schreibens anzumerken. Von einem diskursiven Kontinuum kann nicht gesprochen werden. Die Besprechung ist also auf Interpolationen angewiesen. So erging es mir jedenfalls. Hinzu kommt allerdings auch ein Eigensinn meinerseits.

In einer 30-jährigen Auseinandersetzung mit einem Denken nach Heidegger haben sich eigene Wege angebahnt, die ich hier nicht außer Acht lassen konnte. Wie könnte ein Gedenken eher glücken als so, dass wir denken? hatte Heidegger einen Vortrag zum Gedenken an Max Kommerell begonnen. So möge auch mir ein Gedenken an Hartmut Buchner, der am 30.7.2004 starb, dadurch gelingen, dass ich ihm eigenes Denken zuwende.

5.

Im Oktober 1990 hielt Buchner im Ratssaal der Gemeinde Grassau-Rottau ein deutschungarisches Symposion ab. Das Thema: Der abendländische Anfang im Denken Martin Heideggers.
Hier hielt Klaus Opilik ein Referat zum Titel des Symposions. Dort heißt es: Denn nur wenn sich das Ausbleiben des Seins qua Entzug eine Stätte seiner Ankunft einräumt, kann es sein - wie Heidegger es nennt - "Entgegendenken" geben, das, indem es den Ausbleib nicht auslässt (oder überspringt v.C.), das im Auslassen verwahrte eigens vernimmt.
Mir scheint es - angesichts der Weltlage - nötig, mit gespannter Erwartung darauf zu achten, wo sich der Seinsentzug eine Stätte einräumt, damit dem im Entzug Verwahrten entgegengedacht werden kann. Vielleicht zeigte sich dann, dass die Frage, zugunsten wovon der Entzug sich vollzieht, im Vorigen vorschnell beantwortet worden sein könnte.
Für Hartmut Buchner hatte, wie er mir einmal zum Abschied sagte, die Wofrage den Vorrang vor der Wasfrage - und auch vor der Wiefrage. Daher sein durchgängiges Achten auf den Raumbegriff.

Diese Überlegungen verdanken sich einer Empfehlung von Cathrin Nielsen.

Gustav von Campe, Friedland


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