Esther Schmid Heer

America die verkehrte Welt

Prozesse der Verräumlichung in den Paraguay-Berichten
des Tiroler Jesuiten Anton Sepp (1655-1733)

Rezension


Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Esther Schmid Heer untersucht in dieser Monographie, der Druckfassung ihrer Dissertation, Raumdarstellungen in den Paraguay-Berichten des Tiroler Jesuiten Anton Sepp (1655 - 1733). Hierbei nimmt sie sich des in der deutschen Forschung auf Grund der geschichtlichen Vorbelastung lange Zeit vernachlässigten Raumbegriffs an und knüpft somit an eine mittlerweile rege Forschungsdiskussion an. Dabei stellt sie die Frage, wie Raum "wahrgenommen, strukturiert und beschrieben wird" (S. 17). Hierfür erfolgt im ersten Kapitel "Jesuiten - Pilger und ‚global players' der frühen Neuzeit" eine intensive Darlegung wichtiger raumtheoretischer Konzepte, in der die einschlägige Forschungsliteratur einschließlich neuester Publikationen erfasst wird; so zum Beispiel Homi Bhabbas third space, Richard Whites middle ground, Foucaults Heterotopien, Le febvres Raumverständnis, Schlögels Raumtheorie oder Certeaus Raumbegriff als Wegbereiter des per formative turns, um nur einige Wenige zu nennen. Dies ist eine beeindruckende Darstellung bestehender Raumtheorien, eine Konkretisierung im Hinblick auf die eigene metho-dische Vorgehensweise wäre jedoch wünschenswert gewesen.

Die Textgrundlage ihrer Untersuchung bilden Anton Sepps SJ (Societas Jesu) Reiß-beschreibung von 1696, die Continuation von 1710 und der Paraquarische Blumengarten von wahrscheinlich 1714 (S. 50). Dabei handelt es sich um die frühesten erhaltenen deutschsprachigen Texte aus der Jesuitenprovinz Paraguay (S. 52-53). Die Autorin kontextualisiert die Texte, indem sie beispielsweise auf die für den Paraquarische Blumengarten wichtige Textgrundlage conquista espiritual des Jesuiten Antonio Ruiz de Montoya verweist (S. 56). Hierbei leistet die Dissertation eine intensive Auseinandersetzung mit dem erwähnten Quellenkorpus, um unterschiedlichste Verräumlichungsprozesse aufzuzeigen. Der Autorin geht es in erster Linie nicht um die Beschreibung von Raum, sondern um die Frage inwiefern Sprache Raum erst hervorbringt (S. 77). Daher zeigt ihre Untersuchung durchgehend die dynamische Dimension auf, bei der der Sprachraum als Möglichkeitsraum aufgefasst wird (S. 25).

Im zweiten Kapitel "Räumlichkeit und Performativitat" wird das Quellenkorpus auf Aspekte der Kartierung, Zeit und soziale Verräumlichung hin unter sucht. Schmid Heers Gedankengang liegt zu Grunde, dass gerade mit Beginn des Zeitalters der europäischen Entdeckungen, welches neue geografische Erfahrungen und Ver-messungen, aber auch häufig kulturelle Kontakte mit bis dahin für die Europäerlnnen unbekannten Volkern mit sich brachte, ein grundlegend verändertes Raumbewusstsein entwickelt wurde (S. 81). Schmid Heer vertritt hierbei überzeugend die These, dass sich Reiseberichte der Frühen Neuzeit besonders für die Untersuchung von Ver-räumlichungsprozessen von Neukartierungen eignen (S. 86), da sich Reiseberichte durch die Elemente Raum und Bewegung auszeichnen. Der durchreiste Raum wird in den Quellen sowohl geografisch aufgespannt, als auch sprachlich konstituiert und damit erst dem Leser/der Leserin zugängig gemacht. Hierbei offenbaren die Quellen ein Spannungsfeld zwischen zunehmenden territorialen Ansprüchen der Kolonialmächte und dezentralisierenden Elementen (S. 83), das den Raum dynamisch und vielschichtig erscheinen lasst. Die Wahrnehmung und sprachliche Entfaltung des Raumes hängt dabei maßgeblich von der Erfahrung und Weltanschauung des Wahrnehmenden ab, sodass es zu einer topografisch-topologischen Wechselwirkung kommt, bei der die transatlantische gefahrenvolle Raumbeschreitung des Jesuiten als göttliche Vorsehung interpretiert wird (S. 94, 103-104).

Im dritten Kapitel "Sprachraum als Möglichkeitsraum" werden Textverfahren des Kerben und Glatten, Spiegelungen sowie Transgressionen angewandt, um ‚ordnende' und ‚unordnende' Elemente, also auch Utopisches, herauszuarbeiten. Es wird hierbei anhand von Quellenausschnitten aufgezeigt, wie ‚Alltagspraktiken' in den Missionen als ‚unordnendes' Element interpretiert werden können und damit im Gegensatz zum ordnenden Prinzip der Jesuitenkommunikation, allen voran den Litterae annuae, stehen (S. 125). Die Autorin bezieht sich hierbei auf Textstellen, die in der Tat das ‚ordnende' Prinzip zu unterwandern scheinen. Aus historischer Sicht jedoch scheint mir dieser Ansatz, obwohl durchaus mit Potential, weiterer Untersuchungen zu bedürfen: Das ‚ordnende' Prinzip konnte dabei genauer erklärt werden, um es in den Quellen konkreter zu erfassen; das zu untersuchende Quellenkorpus konnte quantitativ erweitert und seine Rezeption auf ‚unordnende' Elemente hin untersucht werden. Konkret konnte in diesem Zusammenhang der Frage nach ordensinterner Zensur nachgegangen werden.

Insgesamt greift die Dissertation auf eine Fülle an Bildmaterial unterschiedlicher Art zurück: Textausschnitte u. a. auf Latein, Deutsch und Guarani geben Einblicke in die sprachliche Vielfalt der Mission, Fresken verdeutlichen visuell das jesuitische Selbst verständnis und Selbstbewusstsein, Karten eröffnen Einblicke, wie der Verfasser der Quellen, Anton Sepp, als auch die Leserschaft in Europa den kartografischen Raum abstrakt wahrgenommen haben müssen und Zeichnungen illustrieren eindrucksvoll kulturelle Situationen des Alltagslebens in den Missionen.

Schmid Heers interdisziplinäre Ausrichtung spiegelt sich nicht nur in ihrer literatur-kulturwissenschaftlichen Orientierung wider, sondern räumt der historiografischen Einordnung des Jesuitenordens und seiner Missionen im Vizekönigreich Peru angemessen Platz ein. Dabei gelingt es ihr, die dichotomen Darstellungen der traditionellen Historiografie hinter sich zu lassen und vermehrt Austauschprozesse in den Vordergrund ihrer Untersuchung zu stellen (S. 38). Lediglich eine etwas nahere Beschäftigung mit der historischen Verortung der Textgrundlage wäre meiner Meinung nach wünschenswert gewesen, wollte man textliche Einflusse von Verräumlichung sichtbar machen.

Insgesamt lasst sich festhalten, dass Schmid Heer ihrem Anspruch eine literatur-kulturwissenschaftliche Untersuchung vorzunehmen, um Verräumlichungsprozesse aufzuzeigen, gerecht wird und somit einen wichtigen Beitrag zur Jesuitenforschung mit angewandten raumanalytischen Ansätzen leistet.

Javier Francisco Vallejo (Berlin)


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