Halima Krausen

Zeichen an den Horizonten
- Zeichen in euch selbst

Freitagspredigten zum Nachdenken

Veröffentlichungen des Islamischen Wissenschafts- und Bildungsinstituts
Band 12

Rezension


Unter den inzwischen weit mehr als tausend hauptberuflichen muslimischen Geistlichen in Deutschland ist Imamin Halima Krausen, Theologin und Seelsorgerin am Islamischen Zentrum in Hamburg, in mehrfacher Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung. Sie ist einer der ganz wenigen Frauen, die im deutschen Islam ein so hohes Amt bekleiden. Sie ist Amtsnachfolgerin von Imam Mehdi Razvi, der vor fast fünfzig Jahren in der Blauen Moschee an der Hamburger Alster die erste deutschsprachige muslimische Gemeinde gründete, und sie ist weder türkischer, arabischer noch persischer Abstammung, sondern gebürtige Deutsche, die schon mit dreizehn Jahren aus eigenem Antrieb zum Islam gefunden hat.

Die Imamin ist des Worts mächtig. Sie spricht neben ihrer Muttersprache Englisch, Dänisch, Schwedisch, Arabisch, Hebräisch, Urdu und Persisch, sie schöpft aus dem Vollen, sie predigt Klartext. Davon legt Halima Krausen in ihrer zweiten Sammlung von Freitagspredigten - die erste erschien vor vier Jahren und ist längst vergriffen - beredt Zeugnis ab. Ihre Sprache kommt ohne orientalische Schnörkel und Wortgirlanden aus. Sie verzichtet auf theologische Höhenfluge, sie packt die Menschen bei ihren alltäglichen Sorgen und Nöten, sie nimmt kein Blatt vor den Mund.

Aber sie redet niemandem nach dem Mund. Ihre klare Ansprache, ihr entschiedener Standpunkt, ihr Mut, auch unbequeme Wahrheiten auszusprechen, sind selten in einem Milieu, das aus falsch verstandener Frömmigkeit gern Probleme verschleiert, und haben ihr mit Fug und Recht den Ehrentitel einer "Mutter Courage der deutsche Muslime" eingetragen. Halima Krausen betätigt sich seit mehr als einem Jahrzehnt als regelmäßige Freitagspredigerin, eine Frau unter Tausenden männlichen Kollegen. Aber sie ist keine einsame Ruferin in der Wüste.

Sie benutzt als Tribüne keine Kanzel, kein Pult und kein Minbar, sondern bedient sich des Internets, das ihr ungleich weitere Verbreitung und eine jüngere Zuhörerschaft sichern dürfte als jedes Moscheemikrophon. Die Freitagspredigerin veröffentlicht ihre Texte auf Deutsch und auf Englisch, denn längst reicht ihre Gemeinde weit über die Landesgrenzen hinaus. Regelmäßig halt sie Vorträge, Predigten und Seminare in London und Birmingham, in New York und in Jerusalem, zu beiden Seiten der Mauer. Sie findet dort nicht nur in Moscheen, sondern auch in Synagogen, Kirchen und Klöstern, aufmerksame und streitbare Dialogpartner. Ihre Stimme hat Gewicht innerhalb der islamischen Reformbewegung, die international vernetzt ist und von der Peripherie her immer mehr Einfluss auf die Erneuerungsprozesse innerhalb der muslimischen Kernländer selbst gewinnt.

Als Theologin und Seelsorgerin bezieht Halima Krausen klare Positionen - auch in aktuellen Kontroversen. Ein strafender, rechtender, Kriege und Gewalt billigender Gott kommt für sie nicht ins Kalkül. Ihre Theologie ist geprägt von einem Gottesbild des Friedens, der Versöhnung und der Barmherzigkeit. Ihr Vorzug gegenüber anderen Reformern ist, dass sie sich nicht hauptsächlich im akademischen und wissenschaftlichen Sektor bewegt, sondern als Seelsorgerin mindestens ebenso in Anspruch genommen wird. Sie weiß, wo den Gläubigen und den weniger Gläubigen der Schuh drückt. Sie kennt die materiellen und spirituellen Nöte ihrer Gemeindemitglieder und bringt diese Bodenhaftung auf vielfältige und anschauliche Weise in die Argumentation ihrer Freitagspredigten ein. Das Geheimnis ihres Erfolgs ist leicht zu erklären: sie predigt nicht. Sie schwingt keine Moralkeule, sie erhebt keinen Zeigefinger, sie erschlägt ihre Leser und Hörer nicht mit frommen Sprüchen und mit Koranzitaten. Wenn sie moralisch argumentiert, dann nur in homöopathischen Dosen und in Frageform. Sie hat keine fertigen Antworten parat, sie macht allenfalls Vorschläge und regt zum Nachdenken und Nachfragen an, aber gern fügt sie den Vermerk hinzu: "Gott weis es besser!"

Halima Krausen verkündet keine feierlichen ~Worte zum Freitag". Sie hält sich an kein festes Schema, ist aber bemüht, ihre Gemeinde behutsam durch das islamische Jahr mit seinen festen Daten, Riten und Festen zu leiten. Sie verzichtet auf alles Allzubekannte und Zuoftgehörte, kehrt aber gern zu den Quellen, zum Urtext der koranischen Offenbarung, zurück, um sie im Lichte moderner Erkenntnisse und Alltagserfahrungen neu zu deuten. Die Fastengebote des Ramadan nimmt sie zum Anlass, um zum Nachdenken über unsere Essgewohnheiten, unsere Verschwendungssucht und unsere ökologische Unachtsamkeit anzuregen. Sie sieht bei ihren Glaubensgeschwistern einen erheblichen Nachholbedarf im schöpfungsgerechten Umgang mit der Natur und der Umwelt. Aber sie predigt kein Verzicht um des Verzichtes willen. "Religion ist nicht dazu da", schreibt Halima Krausen, "um uns die Fülle Lebens wegzunehmen." Sie soll, heißt es an anderer Stelle, "unser Leben reicher, schöner und erfüllter" machen und uns das "Tor zur Glückseligkeit" öffnen. Dazu dient auch das Fasten. "In dem wir lernen, auf die kleinen Dinge zu verzichten, lernen wir wieder, die kleinen Dinge zu schätzen, ein Glas Wasser oder eine Dattel."

Die islamischen Reinigungsgebote interpretiert die Freitagspredigerin nicht archaisch, sondern sehr zeitgemäß. Sie plädiert für einen sparsamen Umgang mit dem Wasser, warnt vor übermäßigem Fleischkonsum und setzt sich für einen umfassenden Tierschutz ein. Tiere haben in ihrer Theologie einen eigenen Platz, ganz im Sinne des Koran, dessen Suren zu keinem geringen Teil nach Tieren benannt sind. Ihre Betrachtung zum Propheten Noah führt sie zu sehr aktuellen Fragen. Ob wir, in Anbetracht der fortlaufenden Flüchtlingstragödien im Mittelmeer und in anderen, vor allem muslimischen Ländern, uns dessen bewusst sind, dass wir am Ende alle in einem Boot sitzen. Sie fragt, ob wir im Raumschiff Erde in der Lage sind, das Gleichgewicht zu halten, zwischen Armen und Reichen, Männern und Frauen, Jungen und Alten. Sie ist weit davon entfernt, die Verhältnissen in den muslimischen Ländern schön zureden. Sie sieht auch in der Geschichte des Islam nicht nur eitel Sonnenschein. Aus Anlass des Aschurafestes zum Gedenken an den Untergangs Husseins und seiner Getreuen in der Schlacht von Kerbela stimmt sie kein weiteres Klagelied an, sondern fragt nach den eigenen Möglichkeiten, den fortdauernden Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten zu entschärfen. Halima Krausen weiß, wovon sie behutsam redet. An ihrem Arbeitsplatz, dem Islamischen Zentrum an der Hamburger Alster, ist die Zusammenarbeit zwischen beiden Konfessionen seit einem halben Jahrhundert alltäglich auf die Probe gestellte Praxis.

Gern erzählt sie Prophetengeschichten. Aber die Propheten sind für sie keine Idole oder Ikonen, denen es blind nachzueifern gilt, bis hin zum Gebrauch der Zahnbürste und des Gewandes. "Wir sollen keine Kopien unserer Propheten sein. Am Ende werde ich nicht gefragt, warum ich nicht Muhammed oder Fatima gewesen bin, sondern warum ich nicht Halima war und die in mir angelegten Potentiale nicht zur Entfaltung gebracht habe." Die Freitagspredigerin schwebt nicht hoch theologisch über den Dingen und den Menschen, sie beruft sich auf eigenen Erfahrungen und legt dabei eine unter deutschen Muslimen eher seltene Gabe an den Tag: die Fähigkeit zur Ironie und zur Selbstironie. Ein Ausrutscher bei Eis und Schnee vor dem Eingang zur Moschee oder eine schmerzhafte Knieoperation nimmt sie zum Anlass, um über eigene Unzulänglichkeiten und über den Dreck vor der eigenen Haustür nachzudenken. Gelegentlich nimmt sie sich selbst auf die Schippe, und man glaubt zwischen ihren Zeilen ein heimliches Augenzwinkern oder ein verstecktes Grinsen zu lesen, wenn sie darüber reflektiert, wie "man Gutes in schlechter Gesellschaft tun kann." Dabei versteht sie es auch vorzüglich, durch die Blume zu reden, entsprechend dem Titel ihrer Predigtsammlung: "Zeichen zwischen den Horizonten - Zeichen in euch selbst".

Halima Krausen ist keine erklärte Feministin, aber sie legt Wert auf die weibliche Perspektive in der islamischen Theologie und plädiert - leise, aber umso wirkungsvoller - für Geschlechtergerechtigkeit auch in den islamischen Hierarchien und Strukturen. Sie ist davon überzeugt, dass ohne die Lösung der Frauenfrage keine wirkliche Erneuerung des Islam und eine demokratische Umgestaltung der islamischen Gesellschaften möglich sind. Aber sie eifert nicht. Davor schützt sie ihr unbändiges Gottvertrauen. Das trägt sie nicht zur Schau, das trägt sie, man spürt es in vielen ihrer einfachen, klaren Sätze, im Herzen. Für all diejenigen, die Ohren haben zu hören und einen Sinn für Predigten ohne Schema F, ist es ein Gewinn und Genuss, Halima Krausens alternative Freitagsansprachen zu studieren. Jeder ihrer sechzig Predigttexte hat einen eigenen Aufhänger, einen eigenen Duktus und eigene eigene Aussage. Sie liest niemandem die Leviten, sie verkündet kein leeres Bücherwissen, sie vertröstet nicht auf das Jenseits. Jede ihrer Freitagspredigten schließt sie mit einem Gebetstext. Auch dabei kann sie aus einem vollen Fundus schöpfen, hat sie doch erst kürzlich als Herder-Taschenbuch eine wunderbare Sammlung alter und neuer Anrufungen Gottes herausgegeben: "Licht über Licht. Die schönsten Gebet des Islam".

Peter Schütt