Keine wirklichen Alternativen aufgezeigt
SEMPACHERSEE BESPRECHUNG DER LIZENTIATSARBEIT
"DEM SEMPACHERSEE KOMMT DIE GÜLLE HOCH" VON BETTINA SCHARRER
Das Gewässer schützen oder die Schweinehalter verschonen? Um diese Frage
kreist eine Arbeit, die sich um Gegner und Befürworter drehte. Der Sempachersee
erregte die Gemüter.
Bettina Scharrer zieht in ihrer Lizentiatsarbeit ein ernüchterndes Fazit: "Es
gelang bisher nicht, die widerstreitenden Ansprüche nach mehr Produktivität
und gleichzeitig mehr Nachhaltigkeit in der Landwirtschaft in eine Zielharmonie zu
führen." In ihrem gut 180-seitigen Werk zeigt die Historikerin auf, dass zwischen
1976 und 2003 eine Spannung zwischen intensiver Tierhaltung und Gewässerschutz
herrschte. Ihr Titel "Dem Sempachersee kommt die Gülle hoch" stammt aus dem
"Beobachter" von 1987.
Landwirtschaft ist heilige Kuh
Nach einer Einführung schreibt Bettina Scharrer, dass das Thema im Seesterben
vom 7. und 8. August 1984 kulminiert. Dieses führte zu einer massiven
Beschleunigung des bereits laufenden Prozesses, da der Große Rat (heute
Kantonsrat) des Kantons Luzern schon 1979 über den Sempachersee sprach. Ein
Vertreter fragte damals: "Ist der Regierungsrat bereit, sich für eine Landwirtschaft
einzusetzen, welche die natürlichen Zusammenhänge und Kreisläufe respektiert?"
Die Autorin meint dazu: "Diese Frage kann rückblickend nicht vorbehaltlos
mit Ja beantwortet werden." Ein liberaler Großrat warnte bereits 1978: "Sollte eine
lnterpellation zur Sanierung landwirtschaftlicher Produktionsmethoden gemacht
werden? Ich bin mir im Klaren, wer es macht, kommt etwas unter Beschuss denn
Chemie und Landwirtschaft sind heilige Kühe bei uns."
"Vernünftige Vorschriften"
Die große Mehrheit des 170-köpfigen Großen Rats bestand aus CVP- und
LPL-Vertretern. Und diese sprachen sich gegen Düngerverbote aus und plädierten
für "vernünftige Düngervorschriften" und "angemessene Nutzungseinschränkungen", wie Bettina Scharrer aus den Protokollen zitiert. Der damalige Direktor der Landwirtschafts- und Maschinenschule Hohenrain meinte Mitte der 1980er-Jahre aber: "Nach meiner Auffassung müssen wir heute zwischen zwei Übeln das kleinere auswählen. Und dieses ist für mich die Reduktion der Tierbestände."
Die Landwirte und ihre Vertreter in der Politik und in Verbänden wehrten sich
dagegen. Sie befürchteten massiv schlechtere Bedingungen für ihre Betriebe.
Bettina Scharrer zeigt in ihrem Buch ein gewisses Verständnis für diese ausdauernde
Opposition gegen den Abbau des Schweinebestandes: "Den einzelnen betroffenen
Landwirtschaftsbetrieben wurden seitens der nationalem Agrarpolitik keine wirklichen
Alternativen im Sinne einer materiell lohnenden Ökologisierung zu den bisherigen,
auf Intensivierung, Produktionssteigerung und die Rationalisierung ausgerichteten
Produktionsmethoden, angeboten."
Um 358 Prozent angestiegen
Doch die Berner Historikerin rechnet auch vor, dass der Schweinebestand
zwischen 1956 und 1983 in der Gegend um den Sempachersee um 358
Prozent angestiegen ist. "Die stetige Zunahme der Schweinebestande machte
letztlich die Bemühungen um einen Phosphorabbau teils wieder zunichte",
schlussfolgert sie unter anderem in ihrer Arbeit.
Landwirte als Verlierer?
Neben dem großen Fischsterben im Sempachersee hatten das Waldsterben
sowie die Katastrophen von Schweizerhalle und Tschernobyl zu einer
Sensibilisierung geführt. Trotzdem: "Einschneidende Maßnahmen verstärkten
den Widerstand seitens der Landwirtschaft, welche sich als Verlierer sah und
Entschädigungen forderte", betonte Bettina Scharrer.
Voran schritt der Surseer Stadtrat. Am 28. November 1984 verlautbarte er:
"Wir finden es unsinnig, jahrelang die Kosten einer Symptombehandlung zu
tragen und die Ursachenbekämpfung zu unterlassen. Unsinnig ist es, das einerseits
die Überschussproduktion der Landwirtschaft aus öffentlichen Mitteln finanziert wird,
und andererseits die Umweltfolgen aus dieser lntensivlandwirtschaft und aus dieser
Überproduktion wiederum aus öffentlichen Mitteln bezahlt werden müssen." Er
verhängte auf seinem Gemeindegebiet kurzerhand ein Düngerverbot, das umgehend
bekämpft wurde. Schließlich einigte man sich auf die Lösung, die Überproduktion
durch entsprechende Entschädigung der Ertragsminderung abzubauen.
Es war ein Ringen um den Kompromiss, wie die Arbeit zeigt. Bettina Scharrer
bedauert "Die Chance, frühzeitig eine Querverbindung zu gewässerschutzrelevanten Überlegungen herzustellen, in dem das Verhältnis zwischen vorhandener Nutzfläche und Tierbestandesgröße als Richtlinie berücksichtigt worden wäre, wurde nicht wahrgenommen."
Grosse Wertschöpfung
Die umfassend recherchierte Lizentiatsarbeit zeigt, wie die Gesellschaft damals mit
diesem Problem umging, nach Ursachen forschte und verschiedene
Handlungsstrategien entwickelte. Ein lnteressenskonflikt war vorprogrammiert.
Das sich die kantonale Verwaltung, Politik und Landwirte für den Erhalt des
vorhandenen Produktionspotenzials im Status quo einsetzten, begründet
Bettina Scharrer so: "Dies ist nicht weiter erstaunlich in Anbetracht des großen
Wertschöpfungsanteils, mit welchem die Schweinehaltung direkt oder indirekt über
die vor- und nachgelagerten Industrien zur Luzerner Volkswirtschaft beitrug."
Es ging nach ihr also mehr um Geld als um Gülle.
THOMAS STILLHART
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