Hans Moll

Ritalin und Liebe

Geschichte eines ADHS-Kindes und Jugendlichen

Rezension


Der Autor schildert authentisch, offen und liebevoll aus der Ich-Perspektive eines Großvaters seine persönliche Geschichte mit seinem Enkel Tom, der unter einer massiv ausgeprägten ADHS leidet. Während das Syndrom bei seiner 1975 geborenen Tochter, der Mutter von Tom, nicht erkannt worden war, wurde bei Tom ADHS in der Vorschulklasse diagnostiziert und mit Methylphenidat und Ergotherapie behandelt. Tom wuchs bei den Großeltern auf und der Autor erzählt von anhaltender Unruhe, Einschlafschwierigkeiten und Wutanfällen Toms sowie von sich mit gutgemeinten Ratschlägen 'verabschiedendem' Freundeskreis der in Vertretung erziehenden Großeltern, wie man es als Kinderpsychiater schon oft von Eltern eines Kindes mit ADHS geschildert bekommen hat. Hinzu kamen fein- und grobmotorische Entwicklungsstörung sowie eine Störung des Sozialverhaltens, später auch eine Ticstörung, eine Angststörung und Mobbing. Teilweise stellt sich dem Rezensenten die Frage, ob nicht zusätzlich noch eine Autismusspektrumsstörung vorliegt, da beschrieben wird, dass Tom nur zu zwei Schulkameraden Kontakt hat, es in den Beziehungen immer wieder zu Brüchen kommt, altersgerechtes Spiel nicht gelingt und Tom "sich gerne jüngeren Kindern" zuwandte, die "weniger anspruchsvoll" waren und "sich von ihm führen" ließen.

Der Autor beschaffte sich einschlägige Bücher und berichtet über seine Erfahrungen beim Besuch einer ADHS-Angehörigengruppe, aber auch die Verwirrung bei der Lektüre von Texten auf ADHS-kritischen Webseiten, die Interpretation des Umfelds, dass es sich um eine sozial/erzieherisch verursachte Problematik handle, das Hinterfragen der Rechtmäßigkeit der medikamentösen Behandlung. Im Kapitel 'Ausflug in die Welt der Botenstoffe' schlägt sich der Autor als Laie überwiegend wacker, übernimmt aber auch simplifizierende Darstellungen scheinbar monokausal wirkender Neurotransmitter sowie falsche Darstellungen wie "Die Tatsache, dass in den letzten zwanzig Jahren der Einsatz von Ritalin in Deutschland um 6.000% gestiegen ist, ohne dass es bis heute Langzeitstudien über mögliche Spätfolgen gibt, fordert eine kritische Betrachtung geradezu heraus" (S. 63). Hier wäre es für den Fall einer (wünschenswerten!) Neuauflage ratsam und für die angestrebten Ziele sicher nützlich, wenn sich der Autor von seriösen, ausgewiesenen ADHS-Experten wissenschaftlich beraten lässt hinsichtlich der Darstellung und Aussagekraft existierender seriöser wissenschaftlicher Studien.

Die Stärken des Buchs liegen eindeutig in den zahlreichen Schilderungen von Problemen, mit denen sich Kinder mit ADHS und ihre Angehörigen herumschlagen müssen, so beispielsweise mit Lehrkräften, die "der Existenz einer ADHS grundsätzlich skeptisch gegenüber" stehen, den nervenden Kommentaren und Belehrungen "der Neunmalklugen" in der Verwandtschaft und Nachbarschaft zur 'richtigen' bzw. 'besseren' Erziehung des Kindes, "versagte Liebe und Geborgenheit" als Ursachenerklärung, Spannungsfeld von "Nachsicht" und "Strenge", im Schulranzen "regelmäßig zerknitterte Schulhefte, zerknautschte einzelne Blätter, Reste des Frühstücks, verklebte Gummibärchen und auseinandergefallene Schreibgeräte", "ermüdende Debatten mit dem Kind", aber auch mit der Frage, ob das Kind während der medikamentösen Wirkung seinem Wesen nach nicht völlig fremd ist und daher das Medikament eigentlich abgesetzt werden sollte.

Immer wieder gibt es auch erhellende, hilf- und trostreiche Passagen aus dem ADHS-Alltag wie z. B. "Wie sehr Tom auf klare Regeln angewiesen war und sich nur innerhalb dieses klaren Regelgebäudes wohlfühlte, zeigt eine kleine Begebenheit. Irgendwann am Ende eines mühevollen Tages mit Tom war ich am Ende meiner Kräfte, während der Junge immer neue Forderungen formulierte, Wünsche äußerte und mich unendlich nervte. Nach einem entschiedenen Verbot, welches ich aussprach, schrie Tom in einem Anfall von Wut: 'Das mach ich doch, ich mach das, wie ich will!' Erschöpft vom Dauerstress, gab ich ihm den Hinweis, dass er ab sofort alles alleine entscheiden dürfte und ich ihm sofort alles erlauben würde. Tom erstarrte und je näher diese Botschaft in sein Bewusstsein drang, umso hilfloser und ängstlicher wurde sein Blick. Mit einer solchen Freiheit konnte er nichts anfangen. sie machte ihm nur Angst. Langsam trat er auf mich zu und sprach ganz leise zu mir: 'Nein, Opa, so was will ich nicht' und entschuldigend fügte er hinzu, 'ich hab das nicht ernst gemeint, als ich sagte, das mach ich doch, wie ich es will'. Toms Hilflosigkeit, die in diesem Moment offenbar wurde und die seine Angst davor zeigte, aus einem festen, ihm vertrauten Regelwerk entlassen zu werden, hat mich nachdrücklich beeindruckt" (S. 106), "Seit Tom sein eigenes Zimmer im Dachgeschoss bewohnte, zogen sich seine Chaos-Spuren durch das ganze Haus. Seine Kleidungsstücke waren verteilt auf zwei Etagen, wobei sich z.B. ein Strumpf im Dachgeschoss befand und der andere in irgendeinem Zimmer des Erdgeschosses. Schubladen standen ebenso offen wie die Schranktüren, an denen Tom interessiert nach etwas gesucht hatte. Wenn er sich z.B. ein T-Shirt aus dem Stapel seiner Kleidungsstücke entnahm, tat er dies nicht etwa mit Sorgfalt, sondern er riss das begehrte Teil einfach aus dem Stapel heraus und stopfte den großen Rest der zuvor sorgfältig gefalteten Kleidungsstücke wie einen Bündel Lumpen zurück in den Schrank. Ihm fehlte die Zeit, denn wie immer tobten tausend Gedanken durch seinen Kopf. Und wenn er mit der einen Aktion begann, dann waren seine Gedanken schon lange mit der zweiten, dritten oder vierten Aktion beschäftigt.

Natürlich spielte dazu auch die von ihm bevorzugte Musik, laut und für alle vernehmbar. Auf die Idee, seine Zimmertüre zu schließen, kam Tom nicht, denn was ihm gefiel, musste auch allen anderen gefallen. Dazu gehörte auch die von ihm gewählte Lautstärke, die geeignet war, das Haus vom Dachgeschoss bis in die letzten Kellerräume mit lauter Musik zu füllen, so dass man sich oftmals auf einem Jahrmarkt wähnte" (S. 109), "Tom war inzwischen 14 Jahre alt geworden und hatte an Körperlänge erheblich zugenommen. Die erfolgte Neu-Dosierung mit Medikinet retard schien überhaupt keine Wirkung mehr auszulösen, denn seine Hyperaktivität erhielt einen neuen Schub. Besonders seine Großmutter Doris hatte Probleme damit, Tom als widersprechenden, respektlos auftretenden Jugendlichen anzunehmen und ihn mit neuem, angemessenem Verhalten zu führen. Ich fühlte mich dabei nicht gut, denn ich hatte ihr eine Aufgabe zugewiesen, die sie nicht übernehmen wollte. Die Voraussetzungen dafür, die kommenden schwierigen Jahre mit Tom zu überstehen, ohne dass die Familie insgesamt Schaden nahm, waren denkbar schlecht. Ganz gleich, was wir auch immer unternahmen, Tom fand immer einen Weg, eines der übrigen Familienmitglieder zu provozieren. Wenn er in den Pool sprang, dann musste entweder eine große Portion des Wassers auf der Terrasse landen oder er versuchte einen seiner Brüder zu treffen. Sein Bedürfnis, herumzukaspern, unflätige Schimpfwörter an seine Brüder zu verteilen und zu provozieren, schien unersättlich. Er kommunizierte nur noch laut schreiend und schien im wahrsten Sinne von allen guten Geistern verlassen. Oftmals blieb mir keine andere Wahl, als Tom einfach aus dem Verkehr zu ziehen und ihn aus dem Kreis der übrigen Familienmitglieder auszusperren. Meine Versuche, auf ihn einzuwirken blieben erfolglos. Ebenso mein Bemühen, ihn mit Fahrradtouren abzulenken und seinen unermüdlichen Bewegungsdrang ein wenig zu dämpfen. Der Versuch, während der Urlaubstage auf eine Medikation zu verzichten, schlug regelmäßig fehl. So verbrachte Tom stets einen Teil der Urlaubstage auf seinem Zimmer, dort wo er sich ungestört seiner Lieblingsmusik widmen konnte. Der Geräuschpegel, den unsere Familie bis abends spät auf der Terrasse unseres Ferienhauses verursachte, verschreckte selbst unsere kinderlieben spanischen Nachbarn. Sie, die regelmäßig gegen 22.00 Uhr ihren Tisch auf der Terrasse deckten, um wie in Spanien üblich, ausgiebig zu Abend zu essen, räumten jetzt regelmäßig das Feld" (S. 115), "Sein Kinderzimmer konnte man mitunter nur in Gummistiefeln durchwaten. Neben Kleidungsstücken fanden sich Schulbücher, lose aus Heften ausgerissene Blätter, Werkzeuge, Chips, leere Plastikflaschen und Gehäuseteile des PCs auf dem Fußboden. Wenn Tom einen guten Tag hatte, dann legte er seine zurückgebrachten Schulbrote wenigstens auf ein Regal seines Schrankes. Ansonsten fanden sich die teils verschimmelten Frühstücksbrote ebenfalls auf dem Fußboden wieder.

Freiwillig räumte Tom niemals auf. Es bedurfte immer eines besonderen Drucks oder einer in Aussicht gestellten Sanktion, die ihn zu Aufräumarbeiten ermunterte. Wenn dieses erschreckende Durcheinander des Zimmers das Chaos in Toms Kopf widerspiegelte, dann konnte man von diesem Kind kein strukturiertes Handeln und keine Selbstorganisation erwarten. Es machte keinen Sinn, ihm schon am frühen Morgen eine Liste seiner Aufgaben für den Tag um die Ohren zu schlagen. Schon bei Punkt 2 der Aufgabenliste hatte er den Punkt 1 wieder vergessen. Wie andere von ADHS Betroffene auch musste Tom lernen, eine Aufgabenliste Punkt für Punkt abzuarbeiten. Sich zunächst auf eine Aufgabe zu konzentrieren, diese zu erledigen und dann die nächste Aufgabe anzugehen. Mehrere Aufgaben gleichzeitig in seinen Kopf zu hämmern, war völlig sinnlos. Denn diese vielen Informationen gingen in seiner Erinnerungswelt schon bald verloren" (S. 117). Teils unverständlich und unklar erscheinen die Ausführungen von S. 133 bis 138: "Der große Traum dieses früher so antriebslosen Kindes bzw. Jugendlichen war eine berufliche Karriere bei der Bundespolizei. Dass Tom in einem Beruf erfolgreich sein könnte, der seine Urinstinkte als aufmerksamer Jäger bediente, daran hatte ich zu keinem Zeitpunkt gezweifelt. Schon als Kind hatte ihn die außergewöhnliche Fähigkeit ausgezeichnet, seine ganze Aufmerksamkeit sekundenschnell zu bündeln, wenn eine Situation oder ein Thema sein Interesse weckte" (S. 134): Eigentlich dürfte klar sein, dass Jägerinstinkte und auf interessante Themen beschränkte sekundenschnelle Aufmerksamkeit für den Beruf des Polizisten, der ein besonders ausgeprägtes Maß an Impulskontrolle sowie teils stundenlange Aufmerksamkeit auch für weniger interessante Themen erfordert, nicht ausreichen. Obwohl der wörtlich abgedruckten Stellungnahme eines Medizinaldirektors bzgl. Einstellung im Polizeidienst zu entnehmen ist, dass die Vorlage fachpsychiatrischer Befundberichte erforderlich ist zur Entscheidung bzgl. Eignung für den Polizeidienst und lediglich auf die üblicherweise hohe Persistenz der ADHS ins Adoleszenzalter verwiesen wird, konstruiert der Autor daraus eine negativistische Botschaft und schreibt plötzlich von Fehldiagnosen, obwohl doch offenbar gar kein Zweifel an Diagnose und Notwendigkeit der Medikation in der Vergangenheit bestand. Warum die Aussage der Wehrbehörde, dass vorbestehende ADHS-Diagnose und Medikation keinen Ausschlussgrund für eine Bewerbung als Soldat in der Bundeswehr darstellen, als Gegensatz zum Brief der o. g. Medizinaldirektors bzgl. Einstellung bei der Bundespolizei hochstilisiert wird, bleibt unklar. Bekannterweise stellt ADHS zwar kein Hindernis dar, sich bei der Bundeswehr zu bewerben, eine Einstellung ist in der Vergangenheit aber durchaus auch aufgrund von ADHS im Einzelfall verwehrt worden. Schließlich muss auch geprüft werden, ob die Einnahme von Medikamenten tatsächlich nicht mehr erforderlich war, sondern stattdessen einfach nicht mehr erfolgte. Denn der Gebrauch von Waffen macht es sowohl bei der Polizei als auch bei der Bundeswehr erforderlich, dass ein hohes Maß an Impulskontrolle und Daueraufmerksamkeit gegeben ist.

Das Verzeichnis mit "Kontakt-Adressen & Beratungsstationen" ist etwas kurz und willkürlich geraten, die Erläuterungen im Kapitel "Begriffserklärungen" sind nicht immer ganz korrekt, das Literaturverzeichnis lässt mehrere Zitate aus dem Text (u. a. von Heiko Ernst, Mark Leary, Geraldine Downey, Rainer Spanagel, Karen Ersche, Peter Holzer) vermissen. Das Buch erhebt jedoch nicht den Anspruch, ein Handbuch für Eltern oder Erzieher von Kindern und Jugendlichen mit ADHS zu sein. Es "soll dazu beitragen, Vorurteile über ADHS abzubauen und den Umgang mit der Störung zu erleichtern", ... "Hoffnung machen, dass Liebe, Zuwendung, Geduld und Nachsicht zu einem guten Ergebnis führen können", ... "Eltern, Geschwistern und Pädagogen in Momenten der Verzweiflung und Mutlosigkeit einen Funken Hoffnung schenken". Dass tut es!

Ingo Spitczok von Brisinski, Viersen


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