Felice Vinci

Homer an der Ostsee

Ilias und Odyssee kamen aus Nordeuropa

übersetzt von Chris Überla

Rezension


Griechenland ohne Griechen?

(Kein) Homer im Norden: Autor Felice VincNucht Odysseus und Co. an der Ostsee

Seit Heinrich Schliemann ist klar: Troja, die sagenumwobene Festung in Horners "Ilias",um die Griechen und Trojaner zehn Jahre lang erbittert kämpften, lag nahe der Dardanellen im Nordwesten der heutigen Türkei. Unter dem Hügel Hisarlik fanden der deutsche Ausgräber und seine Nachfolger die Überreste einer beachtlichen Metropole der Bronzezeit.

Der Italiener Felice Vinci zweifelt diese in der Fachwelt weitgehend unbestrittene Deutung an, die sich grundsätzlich mit antiken Quellen deckt. Seit den 1990er Jahren schreibt er gegen die herrschende Lehre in der Altertumswissenschaft an. Für ihn lag Troja ganz woanders - und mit dem sagenhaften Kriegsschauplatz auch die Heimat der griechischen Sagenhelden.

"Homer an der Ostsee" ist Vincis mehr als 600 Seiten dickes Mammutwerk überschrieben. In deutscher Übersetzung ist es bereits vor mehreren Jahren beim Verlag Traugott Bautz in Nordhausen erschienen. Die akademische Wissenschaft hierzulande hat Vincis Thesen nie ernsthaft diskutiert - obwohl der Italiener ein scheinbar gutes Argument parat hat: Homers Geografie stimmt teils hinten und vorne nicht mit der Realität in Griechenland und der Agäis überein.

Hier erweist sich Vincis Kardinalfehler als wesentlicher Hinderungsgrund für eine vorurteilsfreie Theoriefindung: Er nimmt die homenschen Epen wörtlich - statt in ihnen verschriftlichte Überlieferungen aus alter Zeit zu sehen, die bis zu ihrer Niederschrift rund ein halbes Jahrtausend und teils länger mündlich weitergegeben wurden.

Weil er in Homer weniger den Dichter sieht, sondern den Chronisten, muss notgedrungen nahezu jede noch so nebensächliche Schilderung der Wirklichkeit entsprechen, muss jede geografische Notiz, die nicht eindeutig auf die Ägäis passt, einen anderen Ursprung belegen. Dieser Ursprung liegt für Felice Vinci im Norden, in Skandinavien. Von dort hätten indogermanische Auswanderer die Sagen an die Küsten des Mitrelmeers exportiert.

Das erinnert an die Versuche deutscher Lokalforscher, die Nibelungensage in der jeweils eigenen Heimat zu verorten. Aus der Nibelungenstadt Worms wird so beispielsweise ein kleines Dorf in der Eifel, aus Dietrich von Bern, der in der Überlieferung für den mächtigen Ostgoten Theoderich steht, ein historisch nicht belegbarer - Lokalfürst im Bonner Raum.

Immerhin gelingt durch solcherlei unkonventionelles Denken mancher Zufallstreffer. Dass etwa Westfalen und Teile Niedersachsens im germanischen Norden als "Hunaland" bezeichnet wurden, lässt zumindest in Erwägung ziehen, dass sich nicht hinter jeder Erwähnung von Hunen/Hunnen in der Sage Artilas asiatische Scharen verbergen.

Vor diesem Hintergrund ist auch Felice Vincis Theorie vom baltischen Ursprung der homerischen Sagenwelt zu bewerten. Seine Theorie zieht jedenfalls von der ersten Seite an in ihren Bann. Vor dein geistigen Auge entsteht eine lebendige Szenerie der nordischen Bronzezeit vor mehr als drei Jahrtausenden: Fürsten in Burgen aus Holz und Stein, Seehelden auf ihren Schiffen, die die unzähligen Felsritzungen Skandinaviens bis heute überliefert haben.

Die faszinierende Vorstellung, Homer erzähle von einem realen Trojanischen Krieg im Ostseeraum, hat einen gewaltigen Haken: Sie ist reine Fantasie. Nur wenige von Vincis Deutungen gehen über zufällige Namensähnlichkeiten hinaus. Vollends absurd wird es, wenn Vinci sich in haltlosen etymologischen Spekulationen versucht: So leitet er das Wort "Wikinger" vom Namen der griechischen .Achaier her.

Kein Königssitz auf Lyö

Kaum besser ist die archäologische Sachlage. Auf der.kleinen dänischen Insel Lyö etwa weist nichts auf einen vorgeschichtlichen Königssitz hin. Für Vinci ist das winzige Eiland südlich von Fünen identisch mit der Heimat des - laut Homer - "blonden" Odysseus: Ithaka. Ganz anders das reale, griechische Ithaka: Hier fanden Archäologen tatsächlich einen Palast aus der Bronzezeit.

Ist "Homer an der Ostsee" ein Buch zum Vergessen? Bricht die ganze Theorie zusammen wie die Ruinen von Troja? Ganz so einfach ist die Sache nicht. Schon in der Antike wurde Ogygia, in der "Odyssee" die Insel der Nymphe Kalypso, im Atlantik vermutet. Der Römer Tacitus berichtet von Fahrten des Odysseus nach Germanien. Und die Meerenge von Skylla und Charybdis wurde beim berüchtigten Mahlstrom im Norden Norwegens verortet.

Die meisten jener nördlichen Lokalisationen, die auch die akademische Wissenschaft nicht völlig ablehnt, betreffen mythische, Orte. Sobald es um handfeste reale Ereignisse wie den Trojanischen Krieg geht, steht Vinci allein auf weiter Flur. Und das aus gutem Grund: Träfe seine Theorie zu, so stünde das mykenische Griechenland mit einem Mal völlig ohne eigene Überlieferung da, ohne erlebte und erzählte Geschichte. Mithin ein Griechenland ohne Griechen - undenkbar!

Vincis wahres Verdienst ist es, die Verbindungen der mykenischen Kultur in den europäischen Norden dem Vergessen entrissen zu haben. Die altgriechische Sagenwelt weist erstaunliche Parallelen zur nordischen Überlieferung auf - bis hin zur völligen Übereinstimmung einzelner Erzählmotive. Mit dem dänischen Seehelden Hadding kennt der Norden sogar einen richtiggehenden Odysseus-Verschnitt.

Die Ähnlichkeit darf aber keineswegs darüber hinwegtäuschen, dass zwischen den Orten der Handlung Tausende Kilometer liegen - und mindestens zwei Jahrtausende. Die Parallelen in der Überlieferung lassen sich jedenfalls einfacher über eine gemeinsame Mythologie der Indogermanen erklären, zu denen sowohl Griechen als auch Germanen zählen, als über eine Verortung der griechischen Sagen im Norden.

Gerade weil Vinci viele lange verkannte Verbindungen offenlegt und damit das gemeinsame indogermanische Erbe Europas ins Bewusstsein zurückruft, hätte sein Buch eine unvoreingenommene wissenschaftliche Erwiderung verdient. Als Reiseführer nach Troja, das der Italiener im finnischen Dorf Toija zu erkennen glaubt, taugt es nicht.

Thorsten Fels


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