Walter Schübler

Bürger, Gottfried August

BIOGRAPHIE

Rezension


Bereits im Jahr 2001 hat der Wiener Literaturwissenschaftler

WALTER SCHÜBLER eine Biografie vorgelegt, die in Aufbau und Struktur den Versuch unternimmt, dem Genre der Lebensbeschreibung neue Darstellungsmöglichkeiten zu eröffnen: Die Lebensgeschichte des Hessen-Darmstädtischen Kriegsrates Johann Heinrich Merck, dem in der Literaturgeschichte lediglich ein Platz als Freund Goethes geblieben ist, folgt der Vita zwar chronologisch, ist aber keine durchformte, Leben und Werk interpretierend einordnende Gesamtdarstellung, sondern eine Montage aus Briefen und Dokumenten, welche die Kritik und Bewertung des historischen Quellenmaterials dem Leser überantwortet.

In seiner 2012 veröffentlichten Biografie Gottfried August Bürgers entwickelt Schübler diesen methodischen Ansatz konsequent fort. Der Weg des Schriftstellers von Molmerswende, wo sein Vater das Pfarramt innehatte, die Schulzeit – unter der Obhut des Großvaters – in Aschersleben und Halle, die Jahre als Student der Theologie in Halle und der Rechtswissenschaft in Göttingen, das unglückliche Intermezzo als Amtmann in Gelliehausen bei Göttingen, die späten Jahre als Extraordinarius an der Georgia Augusta, sein Ruhm zu Lebzeiten als Dichter der Leonore und sein Nachruhm als Verfasser der Wunderbaren Reisen zu Wasser und zu Lande, Feldzüge und lustigen Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen, der Skandal um seine erste Ehe, die zeitweilig als Ménageàtrois gelebt (und literarisch inszeniert) wurde, und schließlich die Scheidung von seiner dritten Ehefrau Elise Hahn, die wiederum für öffentliches

Aufsehen sorgte, werden nicht in jener zeitlichlinearen Folgerichtigkeit aufgearbeitet, die bereits als solche Kausalität und Sinnhaftigkeit des Lebens suggeriert. Stattdessen fügen sich die 20 thematisch aufgebauten Kapitel als Einzelbilder zu einem Panorama seines Lebens und seiner Existenz als Schriftsteller. Ohne – wie noch bei der Merck-Biografie – das Prinzip der Darstellung einleitend methodisch zu reflektieren, konfrontiert der erste Abschnitt des Buches den Leser mit Silhouetten, Kupferstichen und Ölporträts Gottfried August Bürgers; sie werden von einer die äußere Erscheinung des Schriftstellers kommentierenden Auswahl historischer Zeugnisse begleitet. Die Differenz, die Bürger selbst, aber auch seine Zeitgenossen, zwischen dem Mann und seinem Konterfei ausmachten und im Stil der Zeit wortreich erörterten, stellt nicht nur den Glauben des heutigen Betrachters an den Quellenwert überlieferter Bildnisse in Frage. Sie macht zugleich das Prinzip des Biografen sichtbar, sich des Urteils und der Wertung, soweit dies möglich ist, zu enthalten und den Leser zur Evaluation und Einordnung des Quellenmaterials anzuleiten.

Während die Literarhistoriker des 19. Jahrhunderts, wie schon die Zeitgenossen Bürgers, darum bemüht waren, den fragwürdigen und anstößigen Lebensweg des Dichters zu jenem einsamen Nonkonformismus und unglücklichen Außenseitertum zu stilisieren, die das bürgerliche Publikum vergangener Jahrhunderte von einem Künstler erwartete, macht Schübler in seiner auf einem sorgfältigen Studium der Quellen wie des wissenschaftlichen Forschungsstandes beruhenden Darstellung (sie werden im Anhang vollständig verzeichnet), die Ambivalenzen, das Fragwürdige und Unvereinbare dieses Schriftstellerlebens in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sichtbar. Nicht die Lebensgeschichte Bürgers ist der Gegenstand dieser Biografie, sondern die Frage, wie Leben und Werk von der Mit- und Nachwelt bis zur Unkenntlichkeit gedeutet und überformt worden sind.

Abgesehen von der Kritik an den ideologisch begründeten Bürger-Deutungen der literaturwissenschaftlichen Forschung in der DDR, die wie derholt formuliert wird und die, 20 Jahre nach der Wiedervereinigung, nicht nur befremdend anachronistisch, sondern entbehrlich ist, gelingt es dem Biografen durch das Verfahren, historische Briefe, Dokumente und selbstbiografische Zeugnisse kontrastierend gegenüberzustellen und ein differenziertes Porträt des Schriftstellers zu zeichnen, das frei von psychologisierenden Deutungen und retrospektiven Einordnungen ist und dennoch durch Mehrdimensionalität überzeugt. Auch untersucht die Arbeit mit historischen Zeugnissen lebensgeschichtliche Ereignisse aus unterschiedlichen Blickwinkeln in jener Widersprüchlichkeit, die in den durcherzählten, von einem auktorialen Erzähler dargebotenen Biografien der angelsächsischen Tradition der Geschlossenheit und interpretatorischen Schlüssigkeit des Gesamtbildes notwendig geopfert werden. Auf diese Weise entsteht nicht nur ein mehrschichtiges, vom Ballast seiner Wirkungsgeschichte im 19. Jahrhundert befreites Bild des Dichters und seiner Lebensumstände, sondern auch ein ebenso anschauliches wie authentisches Panorama der Epoche. Zudem werden Lücken in der Überlieferung, Gegensätze und Inkonsequenzen nicht nivelliert, sondern benannt und sind als solche integraler Bestandteil der Betrachtung.

Dennoch drängt sich die Frage auf, für welches Lesepublikum eine solche Darstellung geeignet ist? Dem unvoreingenommenen Leser, der sich über das Leben des Schriftstellers informieren möchte, erschwert die Biografie den Zugang, weil sie nicht nur die Kenntnis der literarischen Verhältnisse und philosophischen Debatten im Spannungsfeld von Spätaufklärung und Sturm und Drang voraussetzt, sondern auch die Vertrautheit mit dem dichterischen Werk Bürgers. So ist die Betrachtung über die Ballade Frau Schnips. Ein Märlein halb lustig, halb ernsthaft, samt angehängter Apologie (1777), mit der das zweite Kapitel beginnt, für den Leser, der keine Kenntnis des Werkes vorweisen kann, kaum zu verstehen. Dieser vermag sich weiterhin mit Günter Häntzschels Autorenbuch aus dem Jahr 19881 besser über den Dichter zu orientieren.

Der Literaturwissenschaftler wird demgegenüber zwar das gründliche Quellenstudium würdigen und wertschätzen, gäbe aber einer kommentierten Edition aller heute bekannten Zeugnisse zum Leben Bürgers den Vorzug, da sie ihm die Möglichkeit eröffnete, sich ein eigenständiges Urteil zu bilden. Für die wissenschaftliche Nutzung hingegen vorteilhaft sind die den Band beschließenden Register, die eine gezielte Suche nach Personen und Werken gestatten.

Indem der Lebensweg Gottfried August Bürgers nicht als Entwicklungsgeschichte teleologisch entfaltet wird, sondern als ein Mosaik einzelner Bilder, setzt der Band die mit der Biografie Johann Heinrich Mercks begonnene Arbeit an einer alternativen Methodik von Lebensbeschreibungen fort. Damit löst die Darstellung jenen Anspruch ein, den Walter Schübler in der Nachrede seines Buches selbst benennt: Der Leser ist aufgefordert, sich zu dem dargebotenen biografischen Material „selbständig zu verhalten“. Das ist Freude und Zumutung zugleich.

Anmerkung

1 Günter Häntzschel: Gottfried August Bürger, München 1988 vgl. auch, zuletzt: 1.3.2013.

Sikander Singh, Universität des Saarlandes, Literaturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass, Campus Dudweiler, Beethovenstraße Zeile 6, D–66125 Saarbrücken-Dudweiler


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