Christian Rößner

Anders als Sein und Zeit


Zur phänomenologischen Genealogie moralischer Subjektivität nach Emmanuel Levinas

libri virides Band 13

Rezension


Bisher gibt es erst wenige Werke, die sich mit der These von Emmanuel Levinas, wonach "Ethik die erste Philosophie" zu sein hat, grundlegend auseinandergesetzt haben. In einem ambitionierten Versuch hat es Christian Rößner nun gewagt, der außergewöhnlichen Begründung der Moral, welche Levinas in kritischer Auseinandersetzung mit der Daseinsanalytik Martin Heideggers gibt, nachzugehen. In der Explikation einer phänomenologischen Genealogie moralischer Subjektivität zeichnet Rößner den Entwicklungsgang des Levinasschen Denkens konzise und unter Nutzung zahlreichen Quellenmaterials nach.

Im ersten Teil der Abhandlung steht dabei die Untersuchung der von Martin Heidegger eingeführten ontologischen Differenz, von deren existentialanalytischem Verständnis sich Levinas bekanntlich versucht hat abzugrenzen. Dabei kritisiert Levinas die von Heidegger mit der ontologischen Differenz letztlich eingeführte "Unterschiedslosigkeit" (34), die einen Rekurs auf Sein, das nach Levinas immer "das Schlechte" ist, erzwingt. Levinas möchte bekanntermaßen "nicht mit Heidegger das Sein denken, sondern gegen Heidegger über das Sein hinausdenken" (31). Damit schließt sich Rößner zu einem gewissen Teil der Kritik von Levinas an Heidegger an, indem er konstatiert, dass "Sein und Zeit trotz aller Kritik an der cartesischen und späthusserlschen Bewußtseinsphilosophie nicht über den als eigentliches Ganz-Sein-Können getarnten Idealismus eines im Grunde nur seiner selbst bewussten und nur um sich besorgten Subjekts hinausgekommen sei" (60). Aus dieser Problemlage heraus versuche Levinas, die Fundamentalontologie Heideggers, welche im Anschluss an Hegel auf eine ontologische Indifferenz hinausläuft, durch die Einführung einer ethischen Non-in-differenz, die er in Totalität und Unendlichkeit (1961) und Anders als Sein oder Jenseits des Wesens (1974) entwickelt hat, zu überwinden.

Im zweiten Teil der Arbeit möchte Rößner mit Levinas vor allem verdeutlichen, dass Heidegger die Idee einer unbedingten moralischen Forderung durch die Indifferenzierung der ontologischen Differenz zwangsläufig vernachlässige. Levinas Rede vom Ethischen unterliege dabei einer spezifischen Form der phänomenologischen Reduktion, die in sozialanthropologischen Zusammenhängen - repräsentiert durch "den Anderen" - wieder aufgegriffen werde. Bekanntlich hat Paul Ricoeur diesen Schritt hin zu einer "politischen Indifferenz", so der Ausdruck Rößners, aufgrund der Nichtbeachtung reziproker Gerechtigkeitsstrukturen nicht ganz zu Unrecht kritisiert. Der Ansatz von Levinas erweist sich vor diesem Hintergrund und durchaus im Einklang mit seinen eigenen Absichten nicht als Moralphilosophie im strengen Sinne sondern als Proto-Ethik. Insbesondere möchte dieser Abschnitt noch ein Licht auf die verschiedenen Todeskonzeptionen von Levinas und Heidegger werfen. Für Levinas ist im Unterschied zu Heidegger der "Tod […] alles andere, aber kein möglicher Gegenstand eines Daseinsentwurfes" (71). Das Vorlaufen in den Tod bei Heidegger fange nach Levinas die Problematik nicht richtig ein, weil im Tod vielmehr das Verhältnis zum Anderen genuin zum Ausdruck komme. Gerade anhand der Todesanalysen werde sichtbar, dass sich für Levinas die Zeit nicht als Horizont des Seins offenbart (102). Vielmehr werde Zeitlichkeit als ethisches Geschehen einer Transzendenz, als "Beunruhigung des Selben durch das Andere", erfahren. So zieht Rößner die Schlussfolgerung: "In Sein und Zeit verbindet das Sein […] und vereinzelt der Tod. […] Bei Levinas vereinzelt das Sein […] und verbindet der Tod." (74) Die Kennzeichnung des "Verhältnisses zum Tod als Phil. Jahrbuch 120. Jahrgang / I (2013) Verhältnis zum Anderen" (76) weise schlechterdings über Heidegger hinaus, dessen Anmahnung der Seinsvergessenheit eine Vergessenheit des Anderen nicht mitbedacht zu haben scheint. So zeige sich bei Heidegger symptomatisch, dass der andere Mensch in der Interexistentialanalyse von Sein und Zeit nur in der ordinären Verfallsform des "man" gesehen wird: "Da der Andere bei Heidegger immer nur unter Anderen oder gar nur unter anderem mit-da(bei)-ist, ist er als Anderer außer Acht gelassen." (61) Indem Levinas' Phänomenologie den Anderen hingegen als ganz Anderen bestimmt, der als solcher auch kein Teil meiner Welt sein kann, sondern vielmehr deren Grenze markiert, werde der Horizont des neutralen, auf das Dasein bezogenen Seinsverständnisses nicht erweitert, sondern aufgesprengt. Die Nicht-Gleichgültigkeit wird somit in Form der Alteritätskonzeption mustergültig exemplifiziert. Kraft der Epiphanie des Anderen, in dessen Antlitz der Satz "Du wirst mich nicht töten" eingeschrieben ist, geschieht das ursprüngliche "Widerfahrnis der Alterität" (78). Von hier aus kann und soll erst deutlich werden, was Levinas mit "Ethik als erster Philosophie" ausdrücken möchte. Rößner kommentiert dies mit folgenden Worten: "Der ethische Logos ‚Du wirst mich nicht töten' ist ein Paradoxon, das die Seinslogik der Ontologie nicht zu fassen vermag. Das Antlitz ist das ontologisch Schwächste, von dem gerade dadurch der stärkste Imperativ des Ethischen ausgeht." (90) Daraus folgt wiederum, dass man sich "im strengen Sinne […] vom Anderen kein Bild machen" (91) darf. Hier gilt es allerdings zu bedenken, dass das Habenkönnen eines Bildes vom Anderen - hervorgerufen durch seine Ähnlichkeit mit mir - es mir erst ermöglicht zu wissen, dass ich für ihn überhaupt etwas kann und soll. Was Levinas hier also beschreibt, ist letztlich eine ethische Unvordenklichkeit, die in ontologischen Kategorien und transzendentalen Möglichkeitsbedingungen nicht verstanden werden kann, denn die "Ethik fängt an, wo die Hermeneutik aufhört" (79). Rößner bringt an dieser Stelle Levinas ausdrücklich mit Kant in Verbindung: "Levinas geht allerdings insofern über den klassischen Kant hinaus, als es sich für ihn bei diesem Imperativ gerade nicht um die freie Selbstgesetzgebung eines autonomen Subjekts handelt, sondern um einen Appell, der dieses vermeintlich autonome Subjekt radikal in Frage und nur dadurch in die volle Verantwortlichkeit stellt." (93) Die verpflichtende Verantwortlichkeit ist allein im Antlitz des Anderen verbürgt. Diese responsive Dimension einer nicht-neutralen Rationalität arbeitet Rößner unter Rückgriff auf einige zentrale Thesen von BernhardWaldenfels in all ihren Implikationen abschließend heraus.

Eine Lektüre der vorliegenden Arbeit ist schon deshalb lohnenswert, weil sie dem Leser eine genaue und fundierte Exegese der Schriften von Emmanuel Levinas bietet. Rößner findet sich mühelos in der Gedankenwelt des Phänomenologen zurecht, obzwar er den Beschwörungsformeln des Anderen zeitweise erliegt und die in der Studie vorgetragene Heideggerkritik von Levinas, welche Rößner weder bestätigt noch zurückweist, nicht immer die notwendige Problemhöhe erreicht. Weiterhin ist auffällig, dass bestehende semantische Unterschiede zwischen Andersheit und Fremdheit nicht immer deutlich hervortreten. Es ist deshalb immer wieder zu Recht gefragt worden, wer denn dieser "Andere" letztlich sei. So werden diesem "Anderen" stets Prädikate, welche uns durchaus vertraut sind, untergeschoben (der Andere "verpflichtet mich", "entzieht sich", "geißelt mich" usf.), sodass die These von der vollständigen Inkommensurabilität des Anderen nicht aufrecht erhalten werden kann. Heideggers Bestimmung des Daseins als "formale Anzeige" weist in diesem Zusammenhang übrigens deutlich stärkere impersonalistische Züge auf als die Alteritätskonzeption von Levinas. Der in Litauen geborene Phänomenologe, der sich in seinen Werken damit immer wieder als Schreckgespenst jeder wissenschaftlich auftretenden, neutralistischen Moralreflexion zu erkennen gibt, möchte - so der Grundtenor der Studie Rößners - die Ethik nicht von der Metaphysik als solcher, sondern von einer parmenideisch inspirierten Ontologie lösen. Aufgrund dieser programmatischen Vorentscheidung sträubt sich Levinas' Ethikverständnis bewusst vor seiner Generalisierung, denn Verallgemeinerungsfähigkeit - darunter zählt m.E. auch eine voreilige Divinisierung des Anderen - wäre Levinas zufolge bereits Kennzeichen der ontologischen Indifferenz. So können wir sagen, dass Levinas keine genuin philosophische Ethik entwickeln konnte und wollte, sondern vielmehr eine Phänomenologie der Begegnung im Vorhof der normativen Ethik zu entwerfen beabsichtigt hat, innerhalb dessen sich wohl auch die Freiheitserfahrung in der Exteriorität als genuin jüdische Erfahrung widerzuspiegeln vermag. Diese und andere Aspekte zeichnet Rößner in der vorliegenden Studie in gut überschaubarer sowie inhaltlich anspruchsvoller Weise nach und bringt damit wieder etwas mehr Licht in das immer noch von vielen Missdeutungen getragene Verhältnis zwischen Levinas und Heidegger.

Martin Hähnel (Dresden)
martinhaehnel@gmx.de


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