Hartmut Reinhardt

Dem Fremden freundlich zugetan

Interkulturelle Bezüge in Goethes literarischem Werk

Rezension


Wer sich für die Geschichte interkultureller Studien interessiert - für die Geschichte des Wissens über fremde Kulturen sowie insbesondere auch für das Bewusstsein von der Bedeutung, die fremdkulturellen Texten und Literaturen im Zusammenhang einschlägiger Studien zukommt -‚ der hat allen Anlass, sich Goethe zuzuwenden: Lebenslang hat er sich mit den Literaturen sowie mit anderen kulturellen Zeugnissen fremder Kulturen intensiv auseinandergesetzt, diese Auseinandersetzung stimulierend auf sein eigenes Werk wirken lassen und sie zugleich mit vielfältigen Reflexionen über ihre Funktion und Notwendigkeit begleitet. Das Konzept einer 'Weltliteratur' ist durch Goethe maßgeblich geprägt worden und seine Forderung nach einem Blick, der die Grenzen einzelner Nationen und Kulturräume überschreitet, wird durch sein Schaffen - durch zahlreiche Werke und zumal die Geschichte ihrer Entstehung - eindrucksvoll konkretisiert und exemplifiziert. Die Kontinuität, mit der sich Goethe in verschiedenen Abschnitten seines Lebens und Schaffens mit europäischen wie mit außereuropäischen Literaturen beschäftigt hat, gestattet es, eine 'Weltreise' durch Goethes einschlägige Studien und Projekte nach Schaffensphasen zu unterteilen und dabei thematische Schwerpunkte zu bilden. Immer neue Kreise zieht Goethes Interesse am Fremden; der Radius wird dabei größer, führt über Europa hinaus in den Vorderen Orient, nach Indien, nach China und nach Amerika.

Diverse frühe Texte Goethes dokumentieren eine produktive Beschäftigung mit der Welt jüdischen Lebens, Glaubens und Wissens, der alttestamentarischen wie der zeitgenössischen. Zudem artikuliert sich schon im Frühwerk Goethes ein ausgeprägtes Interesse am Islam und am Koran. Die Figur des Propheten Mohammed (Mahomet) wird in Goethes Gestaltungen unterschiedlich akzentuiert; kontinuierlich ist das Interesse an ihr (vgl. Kap. z: Frühzeit: Aneignungsversuche). Zu den Kreisen, die Goethes Aufmerksamkeit für das Fremde zieht, gehören auch die fremdsprachlichen Lektüren und die literarische Umsetzung der Studien im Feld europäischer und nichteuropäischer Literaturen. Im Kontext der so stetigen Bemühungen Goethes um eine integrative und vermittelnde Auseinandersetzung mit dem kulturell Differenten nimmt es sich allerdings merkwürdig aus, wenn in demjenigen Drama, das als eines der zentralen Dokumente des Humanitätsgedankens in Goethes Werk gilt, die Ausschließung eines kulturell Fremden zum Bestandteil der Konfliktlösung wird: Thoas' Ausgrenzung in der Iphigenie provoziert die Frage nach der Motivation und Notwendigkeit von Ausgrenzung überhaupt. Warum bleibt der 'Barbar' ein Barbar (vgl. S. 39 sowie Kap. 3: Thoas oder das Ärgernis einer Ausgrenzung)?

Goethes Divan bildet das Kernstück der abgehandelten 'morgenländischen' Gegenstände. Reinhardts Divan-Kapitel umreißt Genese und Poetik des großen Projekts der produktiven Auseinandersetzung mit Hafis, die sich flankierend zur Etablierung orientalistischer Studien in Europa und damit zur Begründung eines wichtigen fremdkulturell orientierten Wissenszweiges vollzieht. Das besondere Augenmerk des Kapitels gilt den Facetten des Dialogischen in der Divan-Lyrik, ferner der Rezeptionsgeschichte des Divans und seinen Anschlussstellen für eine interkulturelle Literaturbetrachtung (vgl. Kap. 4: Poetische Morgenlandfahrt: "Westöstlicher Divan").

Goethes Blick auf die Welt der indischen Mythologie ist insgesamt eher kritisch. Beeindruckt zeigt er sich hingegen von literarischen Traditionsbeständen, insbesondere von Kalidasas Sakuntala. Vor dem Hintergrund einer breiten, die Disziplin der Indologie begründenden Auseinandersetzung zeitgenössischer Philologen, Ästhetiker und Übersetzer mit der indischen Kultur und dem Sanskrit sucht auch Goethe durch aktiv-schöpferische Rezeption von Überliefertem Zugang zur indischen Welt. Dies bezeugt sich insbesondere in der Ballade Der Gott und die Bajadere sowie in der Parta-Trilogie (vgl. Kap. 5: Menschen am Ganges: Die "indischen " Balladen).

Die 1827 verfassten Chinesisch-Deutschen Jahres- und Tageszeiten belegen, dass sich Goethes produktive Neugier auf Fremdkulturelles bis ins hohe Alter bewährte. Die Idee einer west-östlichen "Horizontverschmelzung" (S. 151) blieb stimulierend. Ein Überblick über die Werke Goethes, die auf Studien chinesischer Literatur basieren, verdeutlicht neuerlich, dass darüber hinaus die Neigung zur innovativen Erkundung poetischer Gestaltungsformen für Goethes literarische Weltreisen maßgeblich war (vgl. Kap. 6: Deutsch-chinesische Miniaturen in der Alterslyrik).

An das Stichwort "Weltliteratur" knüpft sich bei Goethe sowie bei den Autoren, die diesen (nicht von Goethe geprägten, wohl aber durch ihn popularisierten) Begriff rezipiert und transformiert haben, bei allen Differenzen doch immer wieder die Idee einer internationalen Kommunikation im Bereich des Literarischen. Schon Goethes Vorstellungen zufolge sollte es mit der wechselseitigen Wahrnehmung und Beeinflussung der Schriftsteller verschiedener Nationen zugleich um ein Modell allgemein-kulturellen Zusammenwirkens und um einen konstruktiven Beitrag zu Prozessen des Austauschs in anderen Bereichen (Handel, Politik) gehen. Insofern ist es stimmig, dass Reinhardt seine Ausführungen zum Weltliteraturkonzept des Dichters an die Kapitel zu spezifischen transkulturellen Interessen anschließen lässt. Goethes Hinwendung zum amerikanischen Kontinent ist ein wichtiger Beitrag zur 'Globalisierung' seines Blicks, wobei die Akzentuierung anders ausfällt als bezogen auf Indien und China. Nicht als traditionsreicher Raum einer Hochkultur zieht Amerika das Interesse auf sich, sondern als Projektionsfläche europäischer Vorstellungen und als möglicher Raum eines transkulturellen Miteinanders (vgl. Kap. 7: Letzte Öffnungen: " Weltliteratur" und "Wanderjahre"; hier: 7.1: Leitbild einer internationalen Kommunikation, 7.2: Wandern und auswandern. Das Amerika-Projekt).

Hartmut Reinhardt ist ein so kenntnisreicher wie gründlicher Reiseleiter. Die Studie zu den interkulturellen Bezügen im Schaffen Goethes stellt diesen Grundzug seines Wirkens auf instruktive und prägnante Weise dar. Sie wendet sich, indem sie wichtige Komplexe des goetheschen Wirkens im Überblick erfasst, an fachwissenschaftliche wie an andere Leser, die Auskunft über diesen Aspekt des goetheschen Schaffens suchen. Reinhardt nimmt gelegentlich Bezug auf Beiträge zur Goetheforschung, rückt aber seinen Primärgegenstand - Goethes fremdkulturelle Interessen - so entschieden in den Blick, dass einlässlichere Darstellungen zur Forschungslage (wie sie denkbar gewesen wären) demgegenüber oft zurücktreten. Dies ist eine Entscheidung, die Respekt verdient, wie man auch Reiseleitern konzediert, nicht an jedem Ort des Interesses unbeschränkt verweilen zu können. Eine ergänzende Bibliographie (zumindest) der verwendeten und angeführten Werke wäre gleichwohl nützlich gewesen.

Reinhardts Buch ist einem mindestens doppelten Anliegen verbunden: Erstens entfaltet es in panoramatischer Überschau die Geschichte der Auseinandersetzung Goethes mit fremden Kulturen und bietet in dieser Eigenschaft jedem Leser, der sich für diesen relevanten Aspekt goetheschen Denkens und Schreibens interessiert, eine Informationsquelle, welche die Präsentation von Wissen mir der Erschließung von Deutungsperspektiven verbindet. Zweitens verfolgt es erklärtermaßen eine Absicht, die dezidiert in der Einleitung zur Sprache kommt: Die Beschäftigung mit Goethe soll illustrieren, welche (latent oder offen) gesellschaftspolitische Aktualität fremdkulturelle Studien haben. Zwei Motti Goethes aus den Maximen und Reflexionen sind dem Buch vorangestellt: die Bemerkung, es gebe weder eine "patriotische Kunst" noch eine "patriotische Wissenschaft", sondern beide gehörten "der ganzen Welt an", sowie die Forderung, "Toleranz" (im Sinne von Duldung) nur als vorübergehende Haltung zu betrachten, weil sie in eine "Anerkennung" des zuvor nur 'Tolerierten' über gehen müsse. In diesem Sinne geht es um die aktuelle politische Relevanz der Offenheit für das kulturell fremde. Deutlich wird damit drittens zugleich die Chance, welche gerade der Literatur zur Erschließung eines Raums zukommt, in dem Fremdkulturelles beobachtet, aufgenommen, reflektiert und in immer neuen Ansätzen mit Eigenem vermittelt und verbunden werden kann.

Monika Schmitz-Emans


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