Jörg Deuter

Nicht nur Lili Marleen

Hans Leip und der Esperantologe Richard Schulz in ihren Briefen von 1943 bis 1983

bibliothemata Nr. 24

Rezension


Esperanto? Wie bitte? Ach ja! Die künstliche Weltsprache, die die Völker verbinden sollte. Richard Schulz - oder auf Esperanto Rikardo Sulco (1906-1997) -, über den wir im vorliegenden Band allerhand erfahren, war einer ihrer bedeutendsten Vertreter in Deutschland, übersetzte Böll und Morgenstern ins Esperanto und schrieb selbst zahlreiche Bücher in der Kunstsprache. Heute ist Schulz, der auch als Grafiker und Lyriker wirkte, nur noch Eingeweihten ein Begriff. Ähnlich verhält es sich mit dem zweiten Protagonisten, dem Schriftsteller Hans Leip (1893-1983), dessen Namen wenige noch kennen - ganz im Gegensatz zu seinem berühmtesten Text "Lili Marleen", der in der Vertonung von Norbert Schultze während des Zweiten Weltkriegs zu einem Schlager von ungeheurer Breitenwirkung avancierte und - anders als Esperanto - tatsächlich völkerverbindend wirkte.

Der vom Kunsthistoriker und Germanisten Jörg Deuter herausgegebene Band ist zweierlei: Edition und Biographie. Veröffentlicht ist der Briefwechsel zwischen Schulz und Leip. Die beiden gebürtigen Hamburger kannten sich seit 1940. Drei Jahre später beginnt eine 40 Jahre dauernde Korrespondenz, die ihren Höhepunkt in den 1970er-Jahren erreicht. Es sei der "wichtigste Briefwechsel Leips aus dessen späten Jahren" (S. 9), informiert Deuter und stellt gleichzeitig klar, dass es sich um eine Auswahledition handelt. Präsentiert werden die "geist- und kraftvollsten Stellen" (S. 47), und zwar nicht chronologisch, sondern thematisch in Kapiteln, in denen es um Leben und Werk hauptsächlich von Leip geht. So gibt es Kapitel mir Briefstellen zu Leips Werken "Godekes Knecht", "Die Hafenorgel", "Jan Himp und die kleine Brise" und - natürlich - "Lili Marleen". Es gibt Kapitel, die biographisch ausgerichtet sind, in denen die Leserinnen und Leser über die vier Ehen Leips Auskunft erhalten sowie über seine Wohnorte in Hamburg und Fruthwilen in der Schweiz. Und, nicht zuletzt, gibt es Kapitel, die explizit ‚politische' Briefstellen enthalten mit biographischen Facetten zur ‚Inneren Emigration' und Leips Rolle im "Dritten Reich".

So entsteht beider Lektüre der kenntnisreich kommentierten Briefe eine (Doppel-) Biographie der Korrespondenzpartner, die, angereichert durch eine umfangreiche Einleitung (S. 9 - 52), einem sehr persönlichen Nachwort (ebenfalls umfangreich: S. 226 - 253) und einem nützlichen (und notwendigen) Personenregister, keine Wünsche offen lässt. Dazu kommen zahlreiche, zumeist farbige Abbildungen, die den Text nicht nur schön illustrieren, sondern ihn wirklich bereichern. Der Band - man merkt es sofort - wurde mit großer Sorgfalt verfasst und eingerichtet. Seine Motive erklärt Deuter im Nachwort, aus dem auch hervorgeht, warum Leip eindeutig im Zentrum steht. Deuter ist nämlich ein bekennender Leip-Enthusiast, allerdings auch ein reflektierter und kritischer, der das Werk des hanseatischen Schriftstellers bereits als Schüler entdeckte, ihm Briefe schrieb, ihn auch persönlich kennenlernte und von ihm später den Auftrag erhielt, den vorliegenden Briefwechsel eines Tages zu veröffentlichen. Daher geht es in dem Band weniger um Schulz, der hier eher als ein Stichwortgeber für Leips Biographie fungiert. Es geht um Leip, um seine "Weitsicht und sein Werk", über das "grundlegende Aussagen" (S. 9) getroffen werden. Es geht um "seine Arbeitsweise, sein Selbstverständnis, seine ablehnende Haltung dem ‚Dritten Reich' gegenüber und seinen Zivilisations-Pessimismus" (S. 9). Dabei entsteht kein spektakulär neues Leip-BiId, wohl aber ein modifizierteres, das in der ausdrücklichen Bejahung von Teilen der Gegenwartsliteratur (z B. von Bölls "Die verlorene Ehre der Katharina Blum": "gekonnt geschrieben" (S. 142), in der Revision früherer Animositäten (so etwa gegen Robert Neumann, der Leip in seinem 1927 in Stuttgart erschienenen Buch "Mit fremden Federn" parodiert hatte) und in der Akzeptanz seines literarischen Außenseitertums seinen Ausdruck findet. Darüber hinaus spielt die zeitgenössische Hamburger Literatur von Hermann Claudius bis hin zu Walter Höllerer immer wieder eine Rolle, die hanseatische Kulturszene, für die Leip ein wichtiger Repräsentant und Impulsgeber war, über Jahrzehnte hinweg.

Übrigens war Leip Esperanto gegenüber sehr aufgeschlossen und autorisierte wohlwollend eine von Schulz angefertigte Esperanto-Version von "Lili Marleen". Beim Titel allerdings, der bei Schulz "Lil Marlenjo" lauten sollte, verstand Leip keinen Spaß und lies den Übersetzer wissen (S. 143): "Da im Esperanto der Originaltitel durchaus sprechbar ist, bitte ihn mehr zu verballhornen."

Rüdiger Schütt, Kiel


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