Esperanto? Wie bitte? Ach ja! Die künstliche Weltsprache, die die Völker
verbinden sollte. Richard Schulz - oder auf Esperanto Rikardo Sulco (1906-1997) -,
über den wir im vorliegenden Band allerhand erfahren, war einer ihrer bedeutendsten
Vertreter in Deutschland, übersetzte Böll und Morgenstern ins Esperanto und schrieb
selbst zahlreiche Bücher in der Kunstsprache. Heute ist Schulz, der auch als Grafiker
und Lyriker wirkte, nur noch Eingeweihten ein Begriff. Ähnlich verhält es sich mit
dem zweiten Protagonisten, dem Schriftsteller Hans Leip (1893-1983), dessen Namen
wenige noch kennen - ganz im Gegensatz zu seinem berühmtesten Text "Lili Marleen",
der in der Vertonung von Norbert Schultze während des Zweiten Weltkriegs zu einem
Schlager von ungeheurer Breitenwirkung avancierte und - anders als Esperanto -
tatsächlich völkerverbindend wirkte. Der vom Kunsthistoriker und Germanisten Jörg Deuter herausgegebene Band
ist zweierlei: Edition und Biographie. Veröffentlicht ist der Briefwechsel zwischen
Schulz und Leip. Die beiden gebürtigen Hamburger kannten sich seit 1940. Drei
Jahre später beginnt eine 40 Jahre dauernde Korrespondenz, die ihren Höhepunkt
in den 1970er-Jahren erreicht. Es sei der "wichtigste Briefwechsel Leips aus dessen
späten Jahren" (S. 9), informiert Deuter und stellt gleichzeitig klar, dass es sich um
eine Auswahledition handelt. Präsentiert werden die "geist- und kraftvollsten Stellen"
(S. 47), und zwar nicht chronologisch, sondern thematisch in Kapiteln, in denen es um
Leben und Werk hauptsächlich von Leip geht. So gibt es Kapitel mir Briefstellen zu
Leips Werken "Godekes Knecht", "Die Hafenorgel", "Jan Himp und die kleine Brise"
und - natürlich - "Lili Marleen". Es gibt Kapitel, die biographisch ausgerichtet sind,
in denen die Leserinnen und Leser über die vier Ehen Leips Auskunft erhalten sowie
über seine Wohnorte in Hamburg und Fruthwilen in der Schweiz. Und, nicht zuletzt,
gibt es Kapitel, die explizit ‚politische' Briefstellen enthalten mit biographischen
Facetten zur ‚Inneren Emigration' und Leips Rolle im "Dritten Reich". So entsteht beider Lektüre der kenntnisreich kommentierten Briefe eine (Doppel-)
Biographie der Korrespondenzpartner, die, angereichert durch eine umfangreiche
Einleitung (S. 9 - 52), einem sehr persönlichen Nachwort (ebenfalls umfangreich: S. 226 -
253) und einem nützlichen (und notwendigen) Personenregister, keine Wünsche offen
lässt. Dazu kommen zahlreiche, zumeist farbige Abbildungen, die den Text nicht nur
schön illustrieren, sondern ihn wirklich bereichern. Der Band - man merkt es sofort - wurde mit großer Sorgfalt verfasst und eingerichtet. Seine Motive erklärt Deuter im
Nachwort, aus dem auch hervorgeht, warum Leip eindeutig im Zentrum steht. Deuter
ist nämlich ein bekennender Leip-Enthusiast, allerdings auch ein reflektierter und
kritischer, der das Werk des hanseatischen Schriftstellers bereits als Schüler entdeckte,
ihm Briefe schrieb, ihn auch persönlich kennenlernte und von ihm später den Auftrag
erhielt, den vorliegenden Briefwechsel eines Tages zu veröffentlichen. Daher geht
es in dem Band weniger um Schulz, der hier eher als ein Stichwortgeber für Leips
Biographie fungiert. Es geht um Leip, um seine "Weitsicht und sein Werk", über das
"grundlegende Aussagen" (S. 9) getroffen werden. Es geht um "seine Arbeitsweise,
sein Selbstverständnis, seine ablehnende Haltung dem ‚Dritten Reich' gegenüber
und seinen Zivilisations-Pessimismus" (S. 9).
Dabei entsteht kein spektakulär neues Leip-BiId, wohl aber ein modifizierteres, das in der ausdrücklichen Bejahung von Teilen der Gegenwartsliteratur (z B. von Bölls "Die verlorene Ehre der Katharina Blum": "gekonnt geschrieben" (S. 142), in der Revision früherer Animositäten (so etwa gegen Robert Neumann, der Leip in seinem 1927 in Stuttgart erschienenen Buch "Mit fremden Federn" parodiert hatte) und in der Akzeptanz seines literarischen Außenseitertums seinen Ausdruck findet. Darüber hinaus spielt die zeitgenössische Hamburger Literatur von Hermann Claudius bis hin zu Walter Höllerer
immer wieder eine Rolle, die hanseatische Kulturszene, für die Leip ein wichtiger Repräsentant und Impulsgeber war, über Jahrzehnte hinweg. Übrigens war Leip Esperanto gegenüber sehr aufgeschlossen und autorisierte
wohlwollend eine von Schulz angefertigte Esperanto-Version von "Lili Marleen".
Beim Titel allerdings, der bei Schulz "Lil Marlenjo" lauten sollte, verstand Leip keinen
Spaß und lies den Übersetzer wissen (S. 143): "Da im Esperanto der Originaltitel
durchaus sprechbar ist, bitte ihn mehr zu verballhornen." Rüdiger Schütt, Kiel
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