Stefan Bütikofer

Sozialer Aufstieg durch Schulbildung?

Die Sekundarschule Worb und das Städtische Gymnasium Bern
am Ende des 19. Jahrhunderts

Band 11 der Schriftenreihe: Berner Forschungen zur Regionalgeschichte

Rezension


Vorliegender Lizentiatsarbeit liegt die Fragestellung zugrunde, ob das meritokratische Schulsystem des liberalen Kantons Bern nach 1830 mehr Chancengleichheit aller gewährleisten konnte oder ob Aufstiegschancen immer noch durch das soziale Milieu bestimmt wurden. Untersucht wurden die Worber Schulen und das Städtische Gymnasium Bern. Einsichtig wird die Wahl des Zeitraums - nach unten (ab Jg. 1855) begrenzt durch den Beginn der Rekrutenprüfungen, gegen oben (bis 1889) durch die Quellenpräsenz der Steuerlisten - begründet. Die Quellenvielfalt - untersucht werden Einwohnerregister, Listen der Worber Sekundar- und Primarschülerschaft, Primarschulabschlussprüfungen, Rekrutenprüfungen, Patentprüfungen der Lehrerinnen, Steuerlisten und Stimmregister, Schülerverzeichnisse, Schulkommissionsprotokolle und Jahresberichte des Städtischen Gymnasiums und Taufrödel - verspricht ein facettenreiches, empiriegesättigtes Resultat. In Kapitel 2 und 3 werden die sozioökonomischen Rahmenbedingungen und der Aufbau des Schulsystems in der sich formierenden bürgerlichen Gesellschaft aufgezeigt. Ausgehend von dieser basalen Skizze werden anschließend in Kapitel 4 detailliert die Zusammensetzung der Worber Schülerschaft und in Kapitel 5 die Schüler des, Städtischen Gymnasiums aufgeschlüsselt: In einer Art Lebensverlaufsanalyse bis zum dreißigsten Lebensjahr werden Kategorien wie soziale Schichtung, Schulwahl resp. Berufswahl etc. nachgezeichnet. Es folgen Fazit und Ausblick, Verzeichnis der Tabellen, Abbildungen, Schülerlisten und Bibliographie.

Nebst der nicht gerade lesefreundlichen Darstellung - Fußnoten und Diagramme ohne Jahrzahl, Wiederholungen, inhaltliche Ungenauigkeiten - und nicht immer einsichtiger Literaturwahl (warum Ditton 1992, Hess 1966 und Tanner 1995 und nicht Tanner 2000, Nyffeler 1993, Meyer 1930?) und der Frage, warum keine Staatsverwaltungsberichte oder keine Schulstatistik des Kantons Bern zum Einsatz kamen, fällt die umfangreiche, nicht unbescheidene Fragestellung - u.a. "Wie liberal war der junge liberale Staat?" - auf. Kann ein solches Forschungsdesign zu neuen Ergebnissen führen? Ja, es kann und es bringt einige bemerkenswerte Erkenntnisse.

Festgestellt und mit unzähligen Diagrammen visualisiert wird ganz allgemein, dass sich die Sekundarschule am Ende des 19. Jahrhunderts und in noch höherem Masse das Gymnasium als Standesschulen in der Berner Schullandschaft präsentierten. Es wird festgehalten, dass die Oberschichtfamilien im Untersuchungszeitraum durchschnittlich mehr Kinder hatten als die Unterschichtfamilien und die Eltern den Schullaufbahnentscheid ihres Nachwuchses stark beeinflussten: So wurde der Zusammenhang zwischen Sekundarschule und besseren Berufschancen von der Unterschicht nur bedingt anerkannt, häufiger wurde der Berufsstatus des Vaters auf den Sohn vererbt, mehrheitlich beibehalten, selbst der Besuch der Sekundarschule hatte keinen großen Effekt. Der Besuch der Sekundarschule bedeutete für die Oberschicht Norm, für die Unterschicht Ausnahme. Oberschichten profitierten von der weiterführenden höheren Bildung, indem u.a. auch Freistellen und Stipendien nicht an fähige arme Jugendliche gingen, sondern an Primaner der Oberschicht oder an Söhne von Gymnasiallehrern verteilt wurden. Somit blieb die Herkunft im Untersuchungszeitraum wichtiger als die Schulbildung.

Es ist anerkennenswert, dass der Autor der Studie auch systematisch die Geschlechterfrage berücksichtigt und feststellt, dass bereits um 1873 die Mädchen sehr erfolgreich die Primarschulabschlußprüfungen absolvierten und ungefähr gleichviel Mädchen wie Knaben aufgrund von Aufnahmeexamen in der Sekundarschule aufgenommen wurden Mädchen - aus der Unterschicht - wurden öfter in die Sekundarschule geschickt in der Oberschicht nimmt der Anteil der Mädchen im Untersuchungszeitraum ab. Interessant sind Bütikofers Befunde zu den Heiratschancen: Von 487 Schülerinnen blieben ungefähr die Hälfte ledig die Zahlen zeigen dass es sich vor allem um junge Frauen aus der Unterschicht handelte; Bütikofer schließt daraus, dass Sekundarschülerinnen die besseren Heiratschancen hatten. Wie sehr sich das Gymnasium seit diesem Zeitraum gewandelt hat, zeigt die Tatsache, dass bis 1893 der Besuch der Universität nur mit einer Literarmatur möglich war, Realgymnasiasten lediglich das Polytechnikum offenstand, Gymnasiasten der Handelsklasse in der Regel nach der Matur ein Jahr in der Romandie verbrachten um ihr Französisch zu verbessern und 1894 die erste junge Frau - gegen den Mehrheitsbeschluss der Lehrerschaft - in die Prima aufgenommen wurde und im nächsten Jahr die Handelsmatur als Klassenbeste bestand.

Katharina Kellerhals, Bern


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