Karlheinz Lipp

Der Thüringer Friedenspfarrer
Ernst Böhme (1862-1941)

Rezension


Die deutsche evangelische Kirche ging im 19. Jahrhundert eine unheilvolle Allianz zwischen Thron und Altar ein. Im Zuge der nationalen Einheitsbewegungen im 19. Jahrhundert wurden antirevolutionäre, antidemokratische, antisozialistische und antipazifistische Ressentiments gepflegt und mit Römer 13 begründet: Jedermann sei untertan der Obrigkeit [...] Denn es ist keine Obigkeit ohne von Gott [...] Wer sich nun der Obigkeit widersetzt, der widerstrebt Gottes Ordnung. Damit konnten letztlich auch Militarismus und Nationalismus christlich legitimiert werden und die Erfolge der Einigungskriege von 1864, 1866 und 1870/71 schienen diese Interpretation sogar zu bestätigen. Der Aufstieg Deutschlands zur führenden Industrienation korrespondierte seit Wilhelm II. mit einer gefährlichen Rüstungs- und Kolonialpolitik, um den vermeintlich noch fehlenden "Platz an der Sonne" zu erlangen - ein mehr als unverhohlener Euphemismus für Krieg. Viele Pfarrer und Theologen interpretierten dies als Gottes Wille und schufen so die Voraussetzungen für die evangelische Legitimation des Wilhelminischen Deutschland.

Nur wenige Stimmen wurden laut und widersetzten sich dieser auch andere Nationen erfassenden propagandistischen Kriegsrhetorik Ende des 19.Jahrhunderts. Am bekanntesten noch ist die österreichische Publizistin und Literaturnobelpreisträgerin Bertha von Suttner, die mit ihrem pazifistischen Roman "Die Waffen nieder!" 1889 zur prominentesten Vertreterin einer europäisch ausgerichteten Friedensbewegung avancierte. Sie gehörte zu den Mitbegründern der Deutschen Friedensgesellschaft 1892, die bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs in etwa 100 Lokalvereinen rund 10.000 Anhänger aufbringen konnte. Pfarrer und Theologen aber waren nur selten vertreten. Einer von diesen wenigen war der in Kunitz bei Jena wirkende "Friedenspfarrer" Ernst Böhme (1862-1941), dessen pazifistische Publizistik im Mittelpunkt des vorzustellenden Lesebuchs steht.

Ernst Böhme? Friedenspfarrer? Dem Berliner Studienrat und Historiker Karlheinz Lipp, dessen wissenschaftlicher Schwerpunkt in der Historischen Friedensforschung liegt, ist es zu verdanken, dass sowohl Person als auch das pazifistische Wirken Böhmes dem Vergessen entrissen und aus den verschiedensten Quellen zusammengetragen neu ediert vorliegen. Das Lesebuch erhebt zwar keinen Anspruch auf Vollständigkeit, möchte aber einen aussagekräftigen Querschnitt des vielfältigen Friedensdenkens von Böhme (S. 12) vorlegen. Dieser Querschnitt vereint Annäherungen an Ernst Böhme, worunter der Herausgeber persönliche Aufzeichnungen Angehöriger aus dem erhaltenen Familiennachlass zählt, aber auch Einschätzungen und Kurzcharakteristika von Böhmes Friedensengagement in Handbüchern, Lexika, kirchlichen Periodika und anderen. Weiterhin werden zentrale Predigten, Zeitungsartikel und ausgewählte Passagen aus Monographien und Zeitschriftenbeiträgen Böhmes zusammengetragen; alle mit dem Schwerpunkt auf pazifistische Aussagen. Auch Ausschnitte aus der Kunitzer Ortschronik, die Böhme von 1899 bis 1933 als Stelleninhaber der Pfarrei führte, und der monatlich erscheinenden und von ihm besorgten Zeitung "Heimatglocken. Evangelisches Gemeindeblatt für die Kirchgemeinden Kunit, Laasan, Löbstedt-Zwätzen" sind auf geführt.

Böhme entstammt einer Jenaer Seifensiederfamilie mit liberal-demokratischen Traditionen: Der Großvater Johann David Böhme war als demokratischer Abgeordneter Mitglied des 1848er Revolutionslandtags in Weimar und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts viele Jahrzehnte lang streitbarer Abgeordneter des Jenaer Gemeinderates. Ernst Böhme studierte in Jena Theologie und wirkte nach der Ordination zunächst als Diakon in Lobeda und anschließend von 1899 bis 1933 auf seiner einzigen Pfarrstelle in Kunitz, einer kleinen Gemeinde nördlich von Jena, die ihm auch genügend Zeit für sein darüber hinausreichendes Engagement in der pazifistischen Friedensarbeit bot.

Im Zentrum von Böhmes christlich-pazifistischem Ansatz der Gewaltfreiheit stand das Christentum Christi (Böhme), also das Leben und die Lehre von Jesus selbst, wie sie insbesondere durch das Neue Testament überliefert werden. Christentum und Krieg schlossen einander aus, der Friede sei gottgewollt und menschenmöglich. Daraus resultiert auch eine Kritik an der Amtskirche, die in der Nachfolge des Jesus von Nazareth eine konsequent pazifistische Grundhaltung hatte einnehmen und vertreten sollen (S. 7).

Böhme war Mitglied der Deutschen Friedensgesellschaft und Vorsitzender von deren Ortsgruppe Jena. Es ist sein Verdienst, dass der 1. Deutsche Friedenskongress 1908 im Jenaer Volkshaus abgehalten wurde. Böhme gehört auch zu den Erstunterzeichnern einer Friedensresolution des Berliner Friedenspfarrers Walther Nithack-Stahn an alle protestantischen Geistlichen im Jahr 1913, die sich gegen Aufrüstung und steigende Kriegsgefahr wandte; nur wenige folgten diesem couragierten Beispiel. Der Kriegspädagogik im Kaiserreich hielt Böhme entgegen, dass die Tugenden Mut, Tapferkeit und Aufopferung für den Aufbau einer friedlicheren Welt und mit friedlichen Mitteln eingesetzt werden sollten. In einer seiner Hauptschriften Friedensbewegung und Lebenserziehung (1913) wandte er sich gegen die Erziehung durch militaristische Botschaften im Religions- und Geschichtsunterricht, aber auch gegen die Verherrlichung des Krieges in Literatur, Kunst und Gesang. Kindererziehung und -bildung sollten friedensethisch fundiert sein.

Während des Ersten Weltkriegs war Böhme konsequenterweise Mitglied der "Zentralstelle Völkerrecht", die bereits im August 1916 die Gefahren eines "Diktatfriedens" für die unterlegene Kriegsseite erkannte und einen dauernden Frieden auf Basis internationalen Völkerrechts und Friedfertigkeit mit Flugblättern an den Reichstag einforderte:

1. Der kommende Friede soll, um nicht den Keim künftiger Kriege in sich zu tragen, keinem Volke unerträgliche Bedingungen aufzwingen, insbesondere nicht Annexionen enthalten [...] oder Eingriffe in die Selbständigkeit bisher unabhängiger Staaten vornehmen. 2. Der kommende Friede soll aber auch, ‚um ein dauerhafter Friede zu sein', die Grundlage für ein neues Völkerrecht legen, durch Schaffung einer überstaatlichen Organisation, die Gewähr bietet für friedliche Erledigung künftiger internationaler Streitigkeiten auf dem Wege geordneter gütlicher Vermittlung oder rechtlicher Entscheidung (S. 118f.). Nach dem Krieg trat Böhme dann mit deutlicher Kritik an der protestantischen Amtskirche hervor, der er ein Versagen des ihr gebotenen Friedensengagements vorwarf (Die Unterlassungssünde der Kirche vor dem Kriege - 1919). Ein Jahr später erschien die vom Landeskirchenrat preisgekrönte Abhandlung Die pazifistische Bewegung im Lichte des Evangeliums und der christlichen Ethik (1920).

Angesichts der Marginalisierung pazifistischer Ideen bzw. gar deren Verfolgung in autokratischen und totalitären Systemen kann die Absicht, den Friedenspfarrer Ernst Böhme und dessen Schrifttum vorzustellen, nur begrüßt werden. Sorgfältigere Editionsprinzipien aber bis hin zur Typographie hätten dem Band gut getan. In einer Art Regest wird eine Kontextualisierung versucht, einen Anmerkungsapparat aber sucht man vergeblich. Im Quellen- und Literaturverzeichnis wird eine kurze Übersicht zu Böhmes Veröffentlichungen jenseits der Friedensthematik (S. 156) angeboten, eine Bibliographie aber fehlt in dem dezidiert Böhmes Schriften gewidmeten Lesebuch. Abschnittsüberschriften sind von Dokumentenüberschriften nicht auf den ersten Blick klar zu trennen, wie auch die Regesten kaum vom eigentlichen Dokument. Scheinbar willkürliche Auslassungen werden nicht begründet. So fehlen beispielsweise von der pädagogischen Schrift Friedensbewegung und Lebenserziehung acht von 31 Seiten des Originals; präsentiert wird das Ganze aber auf 11 Seiten - ein Verhältnis, das der Kürzungen nicht bedurft hätte. Der Herausgeber postuliert einleitend: Weitere Quellen gilt es zu erforschen. In vielen historischen und kirchenhistorischen Arbeiten, auch zu Jena und Thüringen, spielt Ernst Böhme keine Rolle, dennoch zählt er zu den wichtigsten Friedenspfarrern (S. 12). Dem sei zustimmend noch hinzugefügt, dass neben der Präsentation der Quellen eine biographische Darstellung zu dem Friedenspfarrer Ernst Böhme noch aussteht, ein Anfang aber mit der vorliegenden Publikation unternommen wurde.

Falk Burkhardt, Jena


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