Ruth Ammann

Politische Identitäten im Wandel

Lesbisch-feministisch bewegte Frauen in Bern 1975 bis 1993

Band 4 der Schriftenreihe: Berner Forschungen zur Neuesten Allgemeinen und Schweizer Geschichte

Rezension


Die Schweizer Historikerin Ammann veröffentlicht mit diesem Buch ihre aktualisierte und überarbeitete Lizentiatsarbeit aus dem Jahre 2006. Der Lizentiats-arbeit entspricht in Deutschland die Magisterarbeit. Ammanns zentrale Fragestellung ist, wie sich Lesben im Umfeld der neuen Frauenbewegung vor allem der 1970er und 1980er Jahre in der Schweizer Hauptstadt Bern definierten, und wie sich diese Selbstdefinition veränderte. Dieser Frage liegt die These zugrunde, dass die „Identität" als Lesbe eine Bedeutung für die Gesellschaftsanalyse, das Selbstverständnis und die aktivistischen Strategien der untersuchten Akteurinnen hat, ja dass diese Frauen und Lesben diese Identität artikulierten, wenn nicht in der Öffentlichkeit erst erfanden. Um diesen Wandel der politischen Identitäten untersuchen zu können, greift Ammann auf eine quellen-und interviewgestützte Untersuchung eines überschaubaren geografischen Raumes zurück, die Hauptstadt der Schweiz, und dort auf die relevantesten feministisch-lesbischen Gruppen bzw. Orte.

Konkret sind dies die 1977 gegründete Lesben Initiative Bern (LIB), die erste Gruppe in Bern, die sich ausdrücklich öffentlich als lesbisch definierte, außerdem die Radikalfeministinnen Bern-Fribourg-Biel (RF, aktiv von 1976 bis 1983) und schließlich die beiden Einrichtungen „Froueloube" bzw. der daraus entstandene „KultVe im Frauenzentrum" (1979 bis 1993). Die ersten beiden Kapitel stellen die Interviews als Methodik der Arbeit vor bzw. die Entstehung der zweiten Frauenbewegung in der Schweiz allgemein und vertieft an den Städten Genf und Zürich dar. Anschließend werden die beiden Gruppen näher vorgestellt und in ihren Transformationen untersucht. Bemerkenswert ist, dass die ersten aktiven Lesben zunächst eher mit der Schwulenbewegung als mit der Frauenbewegung kooperierten. Nach einer Zwischenphase lässt sich die auch in anderen Städten feststellbare Institutionalisierung und widersprüchliche Professionalisierung feststellen, die eher unter einem „kulturellen" Vorzeichen steht.

Für die Lesben der LIB sind das Coming-out, die Selbstbezeichnung als Lesbe und die Kritik der Heteronormativität eine politische Strategie. Für die RF dagegen ist die freie Wahl der Sexualität zentral, da nur dadurch eine freie Entfaltung für alle Frauen möglich werden könne. In den Orten lesbisch-feministischer (Gegen-)Kultur wird zunehmend Gewicht auf eigene, antipatriarchale und auch weibliche Werte und Identitäten gelegt. Ammann gibt mit Hilfe der Oral History einem bisher von der Geschichtsschreibung eher vernachlässigten politisch-sozialen Milieu exemplarisch das Wort. Die vielen kleinen Gruppen mit ihren jeweiligen Abkürzungen (die in einem Verzeichnis aufgeführt werden) erfordern für nichtschweizerische Leserinnen bei der Lektüre etwas Geduld. Ammann arbeitet der Lage des untersuchten Feldes entsprechend bei den verschriftlichten Quellen vor allem mit „grauer Literatur". Sie problematisiert mehrmals, dass es Lücken bei der gesellschaftlichen Überlieferung zur feministischen Bewegung gibt. So waren einige Ausgaben von Publikationen schon gut 30 Jahre später für sie nicht mehr beschaffbar.

Da es sich hier, wie eingangs erwähnt, um eine überarbeitete Lizentiatsarbeit handelt und nicht um eine Dissertation, ist die Reichweite und Tiefe der Arbeit begrenzt. Zum Beispiel findet sich kein transnationaler Vergleich mit der Entwicklung der Frauen-/Lesbenbewegung in anderen (west-)europäischen Ländern oder Städten. Eher diffus verbleibt auch, in welchem gesellschaftlichen Kontext die Konstituierung der untersuchten Lesben-/Frauengruppen stattfand, woher jene ihre Impulse bezogen, welche Kommunikationsnetzwerke es gab, oder warum es zu der Gründung von lokalen und überregionalen Frauenmedien kam, die nur erwähnt werden. Als lokale oder Mik-rostudie ist die Publikation aber gelungen und ein lesenswerter Beitrag zur aus der Mode gekommenen „Geschichte von unten".

Bernd Hüttner, Bremen


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