Sandro Fehr

Die „Stickstofffrage“ in der deutschen Kriegswirtschaft
des Ersten Weltkriegs und die Rolle der neutralen Schweiz

Band 8 der Schriftenreihe: Berner Forschungen zur Neuesten Allgemeinen und Schweizer Geschichte

Rezension


Stickstoff war im Ersten Weltkrieg für alle kriegsführenden Parteien ein in doppelter Hinsicht wichtiger Rohstoff: Er war nicht nur als Dünger in der Landwirtschaft zentral - und damit ein wichtiger Faktor für die Ernährung der Bevölkerung -, sondern wurde (in Form von Salpetersäure) auch für die Herstellung sämtlicher Explosivstoffe benötigt. Stickstoff war eine "militärische Schlüsselressource" (44), deren Verfügbarkeit von größter Bedeutung war und den Verlauf des Krieges wesentlich beeinflusste. In seiner aus einer Lizentiatsarbeit an der Universität Bern hervorgegangenen Publikation fragt Sandro Fehr deshalb nach den kriegswirtschaftlichen Maßnahmen zur Verbesserung der deutschen Versorgung mit Stickstoffverbindungen, den Handelsbeziehungen zwischen Deutschland und der Schweiz sowie ihrem Beitrag zur Aufrechterhaltung der deutschen (Kriegs-)Vcrsorgung. Nebst zahlreichen gedruckten Quellen stützt sich die Arbeit dabei im Wesentlichen auf Bestände aus dem deutschen Bundesarchiv in Berlin, dem Militärarchiv des deutschen Bundesarchives in Freiburg im Breisgau, dem Unternehmensarchiv der BASF in Ludwigshafen sowie dem Schweizerischen Bundesarchiv in Bern.

Nach einigen Ausführungen und übersichtlichen Schaubildern zum Stickstoffkreislauf und der "Stickstofffrage" im 19. Jahrhundert (Kap. 2) beschreibt Fehr die Versorgung Deutschlands mit Stickstoffverbindungen in vier Kapiteln: Ausgehend von der "Stickstofffrage" und der Versorgungslage am Vorabend des Krieges (Kap. 3) werden neben den Auswirkungen der alliierten Blockade (Kap. 4) und dem Übergang vom Bewegungs- zum Stellungskrieg (Kap. 5) auch die fortschreitende "Totalisierung des Krieges" und die Überforderung der deutschen Kriegswirtschaft durch das Hindenburg-Programm thematisiert (Kap. 6). Den Abschluss bildet ein rund 20seitiger Exkurs zur Rolle der neutralen Schweiz und ihrem Beitrag zur Versorgung der deutschen Kriegswirtschaft (Kap. 7).

Vor dem Ersten Weltkrieg waren rund 90 Prozent des Stickstoffs in der Landwirtschaft verbraucht und etwas mehr als die Hälfte der Versorgung durch den Import von Chilesalpeter sichergestellt worden. Der Krieg führte dann zu einer steigenden Nachtrage und zunehmenden Umlenkung des Stickstoffs in die Kriegswirtschaft sowie einer deutlichen Veränderung des Angebotes. Bereits 1915 wurde die Zufuhr von Chilesalpeter durch die alliierte Blockade praktisch lahmgelegt, was rasch zu einer dramatischen Versorgungslücke führte. Der Übergang zum Stellungskrieg potenzierte den Munitionsbedarf, und mit dem Hindenburg-Programm wurde die "seit dem Kriegsbeginn feststellbare Vernachlässigung des landwirtschaftlichen Stickstoffbedarfs" (108) institutionalisiert. Die zunehmende Umlenkung von Stickstoff in die Sprengstoffproduktion führte zu katastrophalen Ertragseinbußen in der Landwirtschaft und zu einer weiteren Verschlechterung der Ernährungslage.

Zur Verbesserung der Versorgungslage blieb nur die Erhöhung der industriellen Stickstoffproduktion. Von den verschiedenen, bereits vor dem Ersten Weltkrieg entwickelten Verfahren setzte sich im Verlauf des Krieges vor allem das von Fritz Haber und Carl Bosch entwickelte "Hochdruck-" oder "Haber-Bosch-Verfahren" durch. Bereits im September 1913 hatte die, BASF in Oppau bei Ludwigshafen die weltweit erste kommerzielle Industrieanlage in Betrieb genommen. Mit dem Bau eines neuen, wesentlich größeren Werkes in Leuna wurde die Stickstoff-Produktion seit 1916 noch einmal deutlich gesteigert und die ausbleibenden Importe von Chilesalpeter zumindest teilweise kompensiert. Die schweizerischen Salpeterexporte hatten hingegen nur "einen äußerst bescheidenen Einfluss" (130) auf die deutsche Versorgungslage. Deutlich umfangreicher waren die Ausfuhren der Stickstoffverbindung Calciumcyananud und insbesondere des energieintensiven Zwischenproduktes Calciunicarbid, die zumindest teilweise wieder in Explosivstoffe umgearbeitet wurden. Insgesamt entsprach der Export von Stickstoffverbindungen (ohne Calciunicarbid) aber "nie mehr als 2 Prozent der deutschen Gesamterzeugung" (157).

Mit Blick auf eine etwas breitere - über Deutschland hinausgreifende - Gesamtbeurteilung der Versorgungslage und der Rolle der neutralen Schweiz wären der Einbezug weiterer unternehmenshistorischer Quellen sowie ein differenzierterer Blick auf die Verschärfung des Wirtschaftskrieges seit 1916 wünschenswert gewesen. Die schweizerischen Salpeterexporte wurden seit 1916 stark reduziert und die Stickstoff-Lieferungen zunehmend an die Entente umgelenkt. Seit 1916 ging nicht nur die Ausfuhr von Calciumcyanamid, sondern auch von Calciunicarbid nach Deutschland zurück, während die Exporte von Calciunicarbid an die Entente deutlich stiegen und sich im Verlauf des Krieges ungefähr verzehnfachten. Dennoch leistet die Arbeit von Sandro Fehr - sei es mit Blick auf die kritische Prüfung des vorhandenen Zahlenmaterials, die immer schlechter werdende Versorgungslage oder die bis dahin vernachlässigte Rolle der neutralen Schweiz - einen wichtigen Forschungsbeitrag und zeigt eindrucksvoll, wie eng der Zusammenhang zwischen Front und Heimatfront, Agrar-, Rüstungs- und Kriegswirtschaft im Ersten Weltkrieg war.

Zürich Roman Rossfeld


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