Peter Schmidtsiefer / Birgit Siekmann (Hg.)

Geschichte als Verunsicherung

Karl-Hermann Beeck und Günther van Norden
am Historischen Seminar Wuppertal

Rezension


Am 23. Oktober 2007 wurde Karl-Hermann Beeck, bis 1993 Professor für Landesgeschichte und Didaktik der Geschichte an der Bergischen Universität, 80 Jahre alt. Fast genau ein Jahr später am 24. Oktober 2008 feierte Günther van Norden seinen 80. Geburtstag, der in Wuppertal Neuere Geschichte lehrte und besonders durch seine Arbeiten zur Geschichte der Rheinischen Kirche im Dritten Reich bekannt wurde. Zumal auch K.H. Beeck sein Interesse an der Milieugeschichte auch an kirchengeschichtlichen Themen erprobte, lag der Gedanke einer gemeinsamen Festschrift vor allem von Schülern der Jubilare nahe, aber auch die beiden Jubilare beteiligen sich jeweils mit einem Beitrag. Den von mehreren Autoren aufgenommenen Titel des Bandes erläutert der einführende Beitrag von P. Schmidtsiefer als ein gemeinsames, aber auf unterschiedlichen Wegen angesteuertes Ziel der beiden Historiker und ihrer Generation, da dieses Verständnis der Geschichte als verunsichernde Herausforderung zur Verantwortung ein "Resultat der spezifisch deutschen Konstellation nach 1945 und einer ebenso spezifischen Individuallage" (S. 37) ist. Die 16 recht umfangreichen Aufsätze bilden vier Abteilungen: (1.) Konzeptionelle Überlegungen, (2.) Strukturen langer Dauer, (3.) Elemente der Formierung bürgerlicher Bildung, (4.) Das Scheitern bürgerlicher Weltbilder: Das Beispiel des Kirchenkampfes im Nationalsozialismus.

Unabhängig von dieser Gliederung sind im Rahmen dieser Zeitschrift die Beiträge zur Zeitgeschichte genauer vorzustellen. G. v. Norden (S. 67-94) entwickelt "Zwei Aspekte kirchlicher Zeitgeschichte": sein Verständnis der Kirchengeschichte als Profangeschichte und als dessen Konsequenz und als heuristisches Problem "Widersetzlichkeit aus christlicher Motivation" gegen das NS-Regime. Die methodologischen Überlegungen wenden sich gegen ein heilsgeschichtliches Verständnis der Kirchengeschichte, da gerade der Theologe die "wirkliche" und die "geglaubte Kirche" unterscheiden und nicht miteinander verwechseln dürfe, während sich der Historiker nur für die Kirche als "sichtbare Gemeinschaft der Gläubigen" als "historisches Phänomen" und "Teil der politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit" interessiere. Dass jedoch die theologische Aufgabe der Unterscheidung gerade keine Trennung beinhaltet, ist auch bei Karl Barth (KD IV/2, § 67) nachzulesen, auf den sich Norden meint beziehen zu können (S. 68). Deshalb werden von einer theologisch verantworteten Kirchengeschichte keineswegs die "großen Taten Gottes ohne kritische Analyse der konkreten Wirklichkeit vollmundig gepriesen" (S. 71), wie sie sich andererseits nicht auf die historisch-kritische Untersuchung beschränken kann, auch wenn Norden die entsprechende Mahnung G. Sauters ablehnt und diesen mehrfach bewusst (?) missversteht.

G. van Norden plädiert entgegen einer Integration der Kirchengeschichte in die Gesellschaftsgeschichte für eine Erschließung der ganzen Breite der kirchlichen Welt von der Frömmigkeit über Verkündigung und Theologie bis zum gesellschafllichen Kontext. Entsprechend der Beachtung der "Innenseite der Kirche" lehnt er eine Analyse gemäß den Wertvorstellungen der Gegenwart ab, sondern fordert eine Orientierung an "den Werlesystemen, die die Kirche - in den jeweiligen Zeitepochen - verkündet" (S. 73). Aber dieser sachgemäß weite Rahmen wird dann eingeengt auf die Frage, "welche Rolle die Kirche für die Verwirklichung mitmenschlichen Verhaltens in der Gesellschaft gespielt hat," weil dies "ein entscheidendes Kriterium für die Identität der Kirche" sei (S. 74). Römer 13 bietet deshalb die "Gehorsams-Ideologie des Apostels Paulus" (S. 84), während die Nächstenliebe, von Paulus unmittelbar davor als Feindesliebe entfaltet, zu "den Kriterien der Wissenschaft" (S. 75) gehören soll. Damit folgt der sich vom Theologen absetzende Historiker seiner eigenen Theologie! Das bestätigt das anschließende Plädoyer für ein "posttheistisches Christentum".

Auch im Blick auf die Kirche während des NS-Regimes fragt Norden, "wo man Identität und Glaubwürdigkeit der Kirche in der Einforderung von Menschlichkeit sah" und "also die kirchlich-theologische Engführung als Amputation der umfassenden [!?] Wesensbestimmung der Kirche in der Nachfolger Jesu erkannte" (S. 87); denn die "Erhaltung der Institution der Volkskirche und der fixierten kirchlichen Bekenntnisse" (S. 84) wollte auch "die große Mehrheit der Deutschen Christen nach 1935", zumal "die Angriffe des NS-Staates gegen diese Autonomiemerkmale nicht allzu bedrohlich waren." Nach der ersten Phase mit dem "Konsens im Patriotismus" bei "Dissens im Bekenntnis" wurde die BK in der 2. Phase des Kirchenkampfes 1935-1945 ein "Sammelbecken protestantischer Widersetzlichkeit" (S. 90). Das war zwar kein politischer Widerstand und angesichts der Millionen Mitläufer und gerade der "frommen Gläubigen, die widerstandslos dem NS-Weltanschauungsbrei anheimfielen," auch kein Beweis für den Zusammenhang von Glaube und Widerstand; aber zur BK "hielten sich zumeist [??] die Menschen, die im Laufe der Jahre durch den Kirchenkampf oder durch die Begegnung mit NS-Verbrechen [...] die Inhumanität des Regimes immer deutlicher erkannten." Nicht die Volkskirche (K. Meier, K. Nowak), sondern der entschiedene Flügel der BK wurde zum Störfaktor, wobei ihre "Widersetzlichkeit an den verschiedenen Fronten [...] aus Schutzgründen kirchlich-theologisch begründet, [...] aber immer politisch grundiert" war (S. 92). Entsprechend "wachsender politischer Klarsicht" war "der Schritt von der Widersetzlichkeit in den politischen Widerstand für manche Christen eine selbstverständliche Forderung." Damit sucht Norden unter ethischen Gesichtspunkten das traditionelle Bild der BK als wichtiges Element des Widerstands oder doch als Stufe zum Widerstand neu zu begründen. Aber weder gibt es dafür hinreichende Quellen (vgl. G. Ringshausen, Widerstand und christlicher Glaube angesichts des Nationalsozilismus, 2. Aufl. Berlin 2008), noch lässt sich so das Selbstverständnis der BK reduzieren; sie war und wollte keine Art .Bürgerrechtsbewegung' in nuce sein.

Die einschlägigen Studien der Festschrift bieten dafür auch keine Belege. Für die DC, deren Wirken auf lokaler Ebene weithin unbekannt ist, bietet B. Siekmann einen wichtigen Beitrag, indem sie den Wuppertaler Pastor Paul Brückner und sein im Auftrag von Heinrich Forsthoff verfolgtes Projekt einer Evangelischen Akademie vorstellt (S. 445-475). Gelang ihm noch trotz der im Sommer propagierten Distanz zwischen NSDAP und DC die Zusammenstellung eines Kuratoriums, so stand die erste Veranstaltung am 15. November 1933 im Schatten des Sportpalast-Skandals vom 13. November, so dass einen halben Monat später die Pfarrer im Kuratorium ausschieden, nachdem sich bereits für die erste Veranstaltung keine Sponsoren gefunden hatten. Deshalb suchte Brückner die Akademie "als eine rein christlichkirchliche Arbeit" (S. 465) von der "Glaubensbewegung" zu trennen, ließ sich aber am 16. März 1943 von ForsthofFzum Mitglied der umgebildeten Provinzialsynode ernennen, ohne dort in den Führungskreis zu gelangen. Während er sich in Wuppertal wegen seines Umgangston desavouierte und am 1. August 1936 in den Ruhestand versetzen ließ, verschärften sich die Fronten zwischen DC und der Gruppe "Evangelium und Kirche", die am 17. Juni 1934 einen Bruderrat für lutherisch Elberfeld gründete.

Ein Licht auf das Verhältnis der Lutheraner und Reformierten in Wuppertal wirft Silke Lekebusch: "Zwei Lebenswege kreuzen sich. Paul Humburg und Georg Schulz im Kirchenkampf" (S. 513-546). Der Einsatz von P. Humburg ist ein wichtiges Element in der Überlieferung des Kirchenkampfes. Obwohl der Pfarrer der reformierten Gemeinde in Barmen-Gemarke keine "heroische Persönlichkeit" war, kämpfte er nach anfänglicher Begeisterung für Hitler und den neuen Staat, bis er 1942 völlig verausgabt seine Ämter in der BK niederlegte. Bis Dezember 1934 arbeitete er zusammen mit G. Schulz, der allenfalls noch als Gründer der Sydower Bruderschaft bekannt ist (vgl. S. Lekebusch, "Wenn ich auf Luther und sein Handeln sehe..." Georg Schulz, ein außergewöhnlicher Theologe an der Lichtenplatzer Kapelle in Wuppertal, Wuppertal 2006). Dabei trat der Pfarrer der lutherischen Gemeinde in Unterbarmen durch seine umfassende Lutherkenntnis nicht nur in der kirchenpolitisch aktiven Wuppertaler Pfarrerschaft "mit eigenen Akzenten" hervor; der Unterzeichner des Gründungsaufrufes der Jungreformalorischen

Bewegung spielte überregional als Sprecher der Bruderschaft sowie in der Rheinischen Pfarrbruderschaft eine wichtige Rolle. Als Mitglied der Barmer Synode trug er wesentlich zur Annahme der Theologischen Erklärung durch die Lutheraner bei. Aber die Scheidung seiner Ehe Ende 1934 ohne Bekenntnis seiner Schuld war für seine Gemeinde und auch etwa ein Drittel der Sydower Bruderschaft nicht tragbar. H. Klugkist Hesse war als reformierter Pfarrer der Bekenntnisgemeinde Elberfeld und Dozent an der Kirchlichen Hochschule und dem Predigerseminar Elberfeld eine zentrale Gestalt der Auseinandersetzungen in Wuppertal. Seiner Arbeit über ihn lässt Gottfried Abrath - in Vorbereitung einer Edition der Tagebücher - eine statistische Auswertung folgen (S. 547-580), die deutlich die Dominanz und die Veränderung von Schwerpunkten erfasst. Dabei fällt besonders die geringe Beachtung des jüdischen Schicksals auf, aber über die Gründe dafür sind durch diese Methode keine Antworten zu gewinnen.

Die Auseinandersetzungen mit den DC in der bisher von der Kirchlichen Zeitgeschichte kaum beachteten Rheinischen Mission bis 1937 schildert Volkmar Wittmütz, wobei er sich auf einen um 1939 verfassten Bericht von Eberhard Delius, theologischer Lehrer am Ausbildungsseminar auf dem "Heiligen Berg" in Wuppertal, stützt. Bemerkenswert ist dabei, dass die Ablehnung der DC bzw. die Nähe der Ausbildner zur BK und die Kritik der vorgeschlagenen Zusammenlegung von 27 deutschen Missionen und ihrer Eingliederung in die DEK gerade wegen der Distanz zur "Staatskirche" nicht zum Beitritt zur BK führten. Es war also keineswegs eine Position der "Mitte", wie sie die anderen Verbände bestimmte.

Katholisches Geschichtsbild und politische Einstellung zeigt Helga Passon durch die Analyse der 1934 abgeschlossenen, ungedruckt gebliebenen Geschichte der katholischen Gemeinde in Elberfeld von Friedrich Jorde, dem 1921 pensionierten Rektor der katholischen Volksschule für Mädchen in Elberfeld (S. 311-354). Dass seine Einstellungen und Urteile zu einer "spezifischen kollektiven Verhaltensdisposition" (S. 313) gehörten, hätten weitere Verweise belegen können.

Der Weimarer Zeit gilt im lokalen Rahmen weiterhin die Darstellung "Kino in Velbert 1919-1932" von Eduard Neumer. Über die Region hinaus widmet sich die Studie von P. Schmidtsiefer der Gymnasialreform Hans Richerts als Zeichen einer Krise und als Versuch ihrer Überwindung (S. 273-310). Der Geschichte nach 1945 besonders in der SBZ gilt der Beitrag von Beatrix BurghofF über den "Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands" (S. 355-403).

Prof. Dr. Gerhard Ringshausen, Leuphana Universität Lüneburg, Scharnhorststr. 1, 21335 Lüneburg


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