Erika Hickel

Die Arzneimittel in der Geschichte

Trost und Täuschung - Heil und Handelsware

Rezension


Die von Wolfgang Schneider (1912 - 2007) begründete Tradition der Pharmaziegeschichte an der Universität Braunschweig war von Beginn an von arzneimittelgeschichtlichen Forschungen maßgeblich geprägt. Dies änderte sich auch unter Schneiders Nachfolgerin, Erika Hickel, nicht, die allerdings weitergehende gesellschaftswissenschaftliche und politische Interessen einbrachte. Als Quintessenz ihres vierzigjährigen akademischen Wirkens legt die Autorin eine umfassende, kultur- und epochenübergreifende Arzneimittelgeschichte vor. Bereits der Rückentext atmet den Geist der Autorin, die dort explizit darauf verweist, eine "Problemgeschichte des Arzneimittelgebrauchs und keine Fortschrittsgeschichte" präsentieren zu wollen. Dies ist in der Tat neuartig, denn lange hat man Arzneimittelgeschichte als eine Art Aneinanderreihung von "success stories" verstanden, von denen es ja auch eine ganze Reihe gibt. Indes liefert das Buch eine Darstellungsperspektive, die von gesellschaftlichen und allgemeinhistorischen Betrachtungen geleitet, übergeordnete Zusammenhänge erschließen hilft, ohne dass sich Autorin und Leser im Dickicht der Detailergebnisse zu verlieren drohen. Eine detaillierte Historiographie einzelner Arzneistoffe, wie beispielsweise die genaue Entdeckungsgeschichte von Aspirin und Penicillin, sucht der Leser denn auch vergeblich, dieserlei wird im Prinzip als bekannt vorausgesetzt oder dem Studium der Spezialliteratur überlassen. Datensammler können sich an Informationen in Tabellenform bedienen, doch ist dies ganz und gar nicht der Schwerpunkt des Buches. Vielmehr werden Entwicklungslinien der Arzneimittelentwicklung, vor allem aber auch des Arzneimittelgebrauchs in allen Zeitepochen skizziert. Die intelligente Gliederung besteht in insgesamt 20 Abschnitten, von denen zehn die Entwicklung chronologisch verfolgen. Die Spanne reicht dabei von Arzneimitteln "in den frühen Hochkulturen Asiens und Afrikas" (Kapitel I) bis zu den "kosmopolitischen" Arzneimitteln des 20. Jahrhunderts (Kapitel X). Die strenge Chronologie wird regelmäßig unterbrochen durch zehn problemorientierte Exkurse, die sich jedoch harmonisch in die Gesamtdarstellung einfügen. Darin geht es beispielsweise um Ethnopharmazie (zu den frühen Hochkulturen sowie später nochmals zur Kolonialzeit), über Nachwirkungen der Vier-Säfte-Lehre (bis hin zum Blutegel), über religiöse und magische Vorstellungen (im Anschluss an Scholastik und Renaissance), über besondere Probleme der Arzneimittelanwendung nach 1600, um 1750, sowie im 19. und 20. Jahrhundert. Ungewöhnliche und interessante Perspektivwechsel ergeben sich in den Ausführungen zu "neuen Arzneimitteln als Grundlage neuer medizinischer Theorien" oder "Wechselwirkungen zwischen Arzneimittellehre und naturwissenschaftlicher Forschung bis 1848". Dabei erfährt der Leser viel Interessantes, Bemerkens- und Bewahrenswertes jenseits der ausgetretenen Pfade einer positivisitischen Arzneimittelgeschichtsschreibung, was auf jeden Fall für die Perioden bis etwa 1900 uneingeschränkt gilt. Vor allem bei der Darstellung der Entwicklungen im 20. Jahrhundert kann man sich aber des Eindrucks nicht erwehren, dass das Pendel zwischen unkritischer Erfolgsgeschichte und problematisierender Darstellung etwas zu sehr auf die Seite der letzteren ausschlägt. So wird die mit der Industrialisierung einhergehende Effizienzsteigerung von Forschung und Entwicklung nur am Rande erwähnt, während die damit zweifellos auch verbundenen Gefahren und Fehlentwicklungen breiten Raum einnehmen. Auch eine gewisse Sympathie der Autorin für ein planwirtschaftlich organisiertes Gesundheitswesen findet sich nicht nur zwischen den Zeilen.

Wurde Arzneimittelgeschichte bislang vielfach aus unserer heutigen Perspektive betrieben, also als Geschichte der uns geläufigen Arzneimittel verstanden, so ist es ein herausragendes Verdienst der Autorin, alle historischen Epochen daraufhin untersucht zu haben, welche Heilmittel man dort bevorzugte und in welcher Weise man damit umging. Hier können nur einige wenige Beispiele schlaglichtartig hervorgehoben werden. So wird beispielsweise der Arzneischatz des Mittelalters, ausgehend von seinen antiken und arabischen Traditionen, ausführlich beschrieben. Die umfangreichen, auch analytischen Vorarbeiten der Braunschweiger Schule bilden die Grundlage für die Untersuchung, in wie weit die chemiatrische Laborpraxis den Arzneischatz beeinflusste. Der Aufschwung magischer Heilmittel zur Zeit der Paracelsisten wird eindrucksvoll mit anderen damals intensiv diskutierten "Fernwirkungen" in Beziehung gesetzt. Der magnetische Kompass etwa oder die Mondphasenabhängigkeit der Gezeiten hatten verständlicherweise hohe praktische Bedeutung zur Zeit der seefahrenden Entdecker. Zum Gebrauch der Chinarinde diskutiert die Autorin Wechselwirkungen mit verschiedenen Fiebertheorien und hebt hervor, dass das antipyretische Arzneimittel die medizinische Theoriebildung in erheblichem Maße beeinflusste. Für die jüngere Zeit wird ausgeführt, wie sehr Kriegserlebnisse und die damit verbundene Terminologie die Pharmakotherapie prägten, wenn etwa vom "Krieg gegen den Krebs" die Rede war.

Die Analyse ist jeweils - und auch das ist gleichermaßen ungewöhnlich wie lobenswert - von einer weitgehend internationalen Perspektive geprägt. So werden wo immer sinnvoll Autoren aus dem angloamerikanischen und französischen Sprachraum herangezogen, während andere Darstellungen häufig im jeweiligen nationalen Blickwinkel verharren. Das ist umso bemerkenswerter, als angesichts der Materialfülle eine intelligente Auswahl an zitierter Literatur getroffen werden musste, was nur mit profunder Kenntnis der internationalen Quellenlage so trefflich gelingen konnte.

In leider krassem Gegensatz zum weitgehend großartigen Inhalt steht das dürftige und unprofessionell anmutende Erscheinungsbild des Werkes. Es ist im Stile schlichten Dissertationsdrucks gesetzt und wenigstens in der broschierten Fassung mit einem kaum beanspruchungsresistenten und graphisch wenig ansprechenden Umschlag versehen. Fehlende Kolumnentitel erschweren die Orientierung und das Nachverfolgen der Querverweise, auch ein Arzneimittelregister wäre hilfreich gewesen. Insgesamt wirkt das Buch leider wenig repräsentativ, was, vor allem in Verbindung mit dem stattlichen Preis, einer weiten Verbreitung leider erheblich im Wege stehen dürfte. Das ist nicht Schuld der Autorin und ernstlich zu bedauern, denn jeder arzneimittelgeschichtlichen Studie, die Hickels Analysen vernachlässigt, wird man in Zukunft Unvollkommenheit bescheinigen müssen.

A. Helmstädter, Eschborn


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