Erika Hickel

Die Arzneimittel in der Geschichte

Trost und Täuschung - Heil und Handelsware

Rezension


Das bemerkenswerte Buch von Erika Hickel ist das Ergebnis einer mehr als 40-jährigen Lehr- und Forschungstätigkeit als Professorin für Geschichte der Pharmazie und Naturwissenschaften an der Braunschweiger Technischen Universität, wo sie einen der wenigen Lehrstühle dieses Faches innehatte. Dort wirkte sie an dem von Wolfgang Schneider begründeten Programm zur Erforschung der Arzneimittelgeschichte mit, das nicht nur mit der systematischen Auswertung literarischer Quellen (z. B. Rezeptbücher, Arzneitaxen, Inventarlisten, Pharmakopöen) einherging, sondern von modernen Analysemethoden materieller Überreste und Nacharbeitungen der Produkte anhand alter Vorschriften flankiert wurde. Aus diesem langjährigen Forschungsvorhaben ist das siebenbändige Lexikon zur Arzneimittelgeschichte (1968-1975), herausgegeben von Wolfgang Schneider, hervorgegangen. Damit war erstmals eine Bestandsaufnahme der seit der Antike bis ins 20. Jahrhundert angewandten Arzneimittel tierischer, pflanzlicher und chemisch-mineralischer Herkunft geschaffen (wenn auch mit unterschiedlicher Dichte für die früheren Epochen), die in Gestalt eines Sachwörterbuchs der pharmaziehistorischen Forschung zugänglich gemacht wurde.

Hickel liefert gleichsam die chronologische Verortung, thematische Vernetzung, kulturelle Einordnung und den wissenschaftshistorischen Kommentar und Bezug zu dieser Fülle von lexikalischen Einzelinformationen in einzigartiger Weise. In ihrer Monographie bietet sie eine umfassende Rekonstruktion der Arzneimittelgeschichte seit den ältesten Zeiten bis in die jüngste Vergangenheit - mit einem Facettenreichtum und einer Genauigkeit, wie es sie bisher nicht gab. Mit soliden, verlässlichen und stets belegten Angaben werden die Zusammensetzung der Mittel, die Einführung neuer Drogen ebenso wie das Verschwinden lange bekannter Präparate, die Gewinnung neuer Verbindungen oder der Einsatz komplementärer therapeutischer Mittel im historischen Kontext aufgezeigt. Des Weiteren wird zu den unterschiedlichen Vorstellungen über die Arzneimittelwirkung und die medizinisch-therapeutischen Konzepte, die Vorgeschichte der industriellen Arzneimittelherstellung und die Technologie der Arzneifertigung oder über die gesundheitspolitischen Hintergründe bei der Umstrukturierung des Arzneimittelmarktes ein reiches Wissen ausgebreitet. Dabei geht die Autorin behutsam mit der Identifizierung aus der Antike oder dem Mittelalter überkommener Drogennamen um, vermeidet Verallgemeinerungen und diskutiert die Schwierigkeit der Parallelisierung moderner Nomenklaturen mit den traditionellen Bezeichnungen. Trotz ihrer eigenen Vorbehalte bietet sie eine eindrucksvolle Übersicht über den Bestand und Wandel des Arzneimittelgebrauchs im Lauf der Jahrhunderte, wobei sie keineswegs die vielen noch ungeklärten Fragen verschweigt, vielmehr Widersprüchliches hervorhebt und zahlreiche Anregungen zu weiteren Nachforschungen einfließen lässt. Bei ihren Ausführungen bemüht sich Hickel zwar um eine kultur- und epochenübergreifende Sicht. Mangels ausreichender Studien in außereuropäischen Ländern nimmt die abendländischeuropäische Entwicklung dennoch den Grosteil des Werkes ein - und hier vor allem die deutsche Geschichte, da sie am ausführlichsten erforscht ist.

Das Werk ist in zehn Kapitel unterteilt, die jeweils mit einem problemorientierten Exkurs über die entsprechenden historischsoziologischen Hintergründe und theoretischen, medizinischen wie naturwissenschaftlichen Konzepte und Impulse der Arzneimittelproduktion verknüpft sind. Die einzelnen Kapitel enthalten mehrere übersichtlich strukturierte Tabellen, in denen die Quellen und die jeweils behandelten Arzneidrogen oder ähnliche Gegenüberstellungen zusammengefasst sind. Sie bieten eine Fundgrube detaillierter Informationen, die es dem Leser ermöglichen, den Hinweisen im Text näher nachzugehen.

Besonders hervorzuheben ist der Versuch, die Entwicklung der Arzneimittelforschung und Arzneimittelproduktion bis in die jüngste Vergangenheit, bis ans Ende des 20. Jahrhunderts, zu verfolgen - eine Zeitspanne, die bisher nur fragmentarisch untersucht ist. In dem spannungsgeladenen Kapitel versteht es die Autorin, die Konflikte und Widersprüche im Dienste der industrialisierten Forschung, die in der aktuellen Arzneimittelpolitik nichts von ihrer Brisanz verloren haben, schonungslos offenzulegen. Nicht nur hier, sondern im gesamten Werk ist Hickel weit entfernt davon, eine "Fortschrittsgeschichte" der Arzneimittelversorgung zu schreiben, wie sie noch immer in zahlreichen pharmazie- und naturwissenschaftshistorischen Beiträgen glorifizierend dargeboten wird. Im Blick auf die ambivalente Bedeutung des Pharmakons als "Heil- und Handelsware" und die daraus resultierenden Interessenkonflikte zwischen Wohltätigkeit, Gewinnmaximierung, Qualitätskontrolle und Sicherheit der Arzneimittelversorgung nimmt sie in erfrischender Weise immer wieder eine kritische Distanz ein. In der Kritik an den Krankenkassen und ihren Auswirkungen auf den Arzneimittelmarkt im 20. Jahrhundert zeigt sich die Autorin allerdings merkwürdig enthaltsam, und man fragt sich, warum sie die Lenkung des Arzneimittelmarktes durch die Einführung der Zwangsversicherung seit dem Ende des 19. Jahrhunderts nicht näher ins Visier genommen hat.

Das Buch ist klar gegliedert, sachlich-nüchtern und verständlich geschrieben, ohne sich an kunstvollen und rhetorischen Attitüden zu delektieren, so dass die überwältigende Fülle der Informationen nicht nur für Fachleute, sondern auch für Laien lesbar und deutlich bleibt. Die Studie kann als die erste ebenso umfassende wie kompetente Darstellung der Geschichte des Arzneimittels in seinen vielfältigen Aspekten, vor allem als Promotor pharmazeutischen Wissens, allen bestens empfohlen werden, die sich mit der Geschichte der Pharmazie und Naturwissenschaften beschäftigen. Schade nur, dass die Ausstattung des Buches so phantasie- und reizlos wie ein Vorlesungsmanuskript gestaltet ist - der Inhalt hatte eine ästhetischere Präsentation verdient.

Irmgard Müller, Bochum


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