Erich Mertens und Martin Völkel (Hrsg.)

Der Graue Mann eine Volksschrift

von Johann Heinrich Jung, genannt Jung-Stilling

Nach den Erstdrucken herausgegeben
und kommentiert von Erich Mertens und Martin Völkel

Rezension


Johann Heinrich (Henrich) Jung (1740-1817), der sich nach den "Stillen im Lande" (Ps 35,20) seit 1777 Stilling, in den letzten zwanzig Lebensjahren Jung- Stilling nannte, war eine der großen Gestalten der Erweckungsbewegung im deutschsprachigen Raum, ein bemerkenswerter, vielbegabter, intensiv lebender Mensch in sehr bewegter Zeit, Zeitgenosse Goethes und Napoleons. Er war in einfachen bäuerlichen Verhältnissen des Siegerlandes beheimatet, geboren in dem Dörfchen Grund bei Hilchenbach. Er wurde Schulmeister und Hauslehrer, Organist, Handwerker im Bergischen Land, war auch in einem Unternehmen als Verwalter mit weitreichender wirtschaftlicher Verantwortung tätig. Ein Mäzen ermöglichte ihm, (in Straßburg) Medizin zu studieren. 1772 bis 1778 wirkte er als Arzt in Elberfeld; in diese Zeit fällt die denkwürdige Begegnung von Goethe, J.G. Hasenkamp, Lavater, Collenbusch, F.H. Jacobi, Jung-Stilling und anderen in Elberfeld. Schließlich aber beschäftigte er sich so intensiv mit den Kameralwissenschaften, dass er 1778 Professor der Staatswirtschaft wurde, zunächst in Kaiserslautern, später (als die Kameralschule 1784 dorthin verlegt wurde) in Heidelberg (damals wurde ihm der Titel eines Hofrats verliehen), bald danach (1787) in Marburg. Auf seine zahlreichen fachwissenschaftlichen Veröffentlichungen hat er selbst verschiedentlich hingewiesen. Immer wieder wirkte Stilling in all den Jahren auch weiterhin augenärztlich als Staroperateur. 1803 gab er seine Professur in Marburg auf, um dem Ruf des Kurfürsten Karl Friedrich von Baden (1728-1811) zu folgen. Karl Friedrich von Baden setzte ihm ein Gehalt aus, das Jung-Stilling ermöglichte, ganz seinem inneren Beruf zu leben, nämlich in seinem ausgedehnten Briefwechsel und seiner Schriftstellerei die Religion und das praktische Christentum zu befördern. So lebte Jung-Stilling im Alter in Karlsruhe, dem Großherzog bis zu dessen Tod freundschaftlich und dankbar verbunden als ein weithin bekannter, einflussreicher und geehrter Mann.

Sein Leben sah er im Lichte der Führung Gottes. Seine Lebensgeschichte beweise ihm geradezu, so hat er am 1.3.1789 an Immanuel Kant geschrieben, wie sehr er "Ursache habe, einen Gott, einen Erlöser und Lehrer der Menschen, und die allerspeziellste Vorsehung zu glauben"3. Warum er ein so vornehmer und berühmter Mann geworden sei, Hofrat und Professor, hat er erweckten Glaubensgefährten in Mülheim an der Ruhr, strengen Anhängern Tersteegens, eigens in einem Brief vom 7.1.18014 als eine Folge göttlicher Fügungen erläutert.

Er wollte auch sonst dem Glauben zur Einsicht und dem Denken zum Glauben verhelfen; Zweifel beheben und falsche Skepsis abwehren. Ihn quälten die damals in Theologie und Kirche herrschenden scharfen Gegensätze zwischen Vernunft und Glaubenserfahrung, der Streit zwischen Aufklärung und Orthodoxie, die Ferne zwischen Erweckung und Volkskirche. Das brachte ihn zu einer Fülle von Veröffentlichungen, besonders aber in seinem Alter durch viele Jahre hindurch zur regelmäßigen Herausgabe der Zeitschrift Der Graue Mann eine Volksschrift.

In der Gestalt des Grauen Mannes wollte er die seligmachende Gnade Gottes selbst in die Gegenwart hineinsprechen lassen. So wie der in Christus mit den Menschen ausgesöhnte himmlische Vater durch sein Wort und seine Vorsehung zum Gewissen der Menschen spreche oder sprechen würde, so lasse er den Grauen Mann sprechen, hat Jung-Stilling einmal notiert (S. 1094 f der vorliegenden Ausgabe).

Jung-Stillings Auseinandersetzungen mit den geistigen Bewegungen seiner Zeit zeichnen sich durch kritische Kraft gleichermaßen gegenüber dem Hochmut rationalistischer Aufklärer wie gegenüber dem Pharisäismus pietistischer Schwärmer aus. Den Postulaten aufgeklärten Denkens stellt er die Bedeutung der frommen Erfahrung entgegen, aber er bemüht auch Argumente, die dem nachdenklichen Zeitgenossen den biblischen Gottesglauben einleuchtend machen sollen. Die Zweifel der Vernunft sind ihm ein gewichtiges Thema.

Er liebt die beweisbaren Wahrheiten, spekuliert über die Gesichtspunkte göttlicher Geschichts- und Lebenslenkung; ihm liegt daran, die Übereinstimmung zwischen Vernunfteinsicht und Glaubensgewissheit zu erweisen.

Die Frömmigkeit möchte auf Plausibilität nicht verzichten. Mancher frühe Tod etwa soll hier in dem Erweis der providentia Dei specialissima seine nachträgliche Begründung finden. Das Problem der Theodizee steht immer wieder im Hintergrund der Diskurse des Grauen Mannes. Die Wunderfrage wird erörtert, die Nichtbeweisbarkeit "häuslicher Wunder" gegenüber außenstehenden Skeptikern behandelt; Dialoge gelten der Überwindung des "garstigen breiten Grabens" zwischen biblischer Zeit und Gegenwart, oder, weiter mit Lessing gesprochen, des Grabens zwischen "zufälligen Geschichtswahrheiten" und "notwendigen Vernunftwahrheiten", über den der Kritiker auf den von der Theologie seiner Zeit gebotenen Wegen nicht kommen konnte. Das Gebet und die Gebetserhörung, die Wege der Heiligung sind gewichtige Themen, über die Bedeutung des Okkulten und den Aberglauben, Zauberei und Hexen wird gesprochen. Auf weite Strecken hin ist der Graue Mann auch kritischer Rezensent von Neuerscheinungen, die ihm besprechenswert erscheinen.

Seine originale Fassung grundlegender Glaubensfragen und seine diskursive Apologie des Christentums haben dem Grauen Mann zu seiner Zeit und auch später die Aufmerksamkeit nachdenklicher Christen verschafft. Dem heutigen Leser vermittelt die Lektüre eindrückliche Zugänge zu Situationen und sogenannten Mentalitäten zu Beginn des 19. Jahrhunderts, zu den Eigenarten der Erweckungstheologie jener Zeit, zu den damaligen Usancen der Verbindung von Bibelexegese und Geschichtsdeutung und namentlich zu den propria Stillingschen Denkens, so zu seiner chiliastischen Zeitdeutung (besonders im Anschluss an die Offenbarung des Johannes).
Erich Mertens und Martin Völkel legen nun in vier broschierten Bänden eine Edition jener Zeitschrift vor. Beide Herausgeber haben sich seit langem intensiv mit Jung-Stilling beschäftigt. Erich Mertens, Jahrgang 1949, Dr. phil., hat in Münster Germanistik, Geschichte und Evangelische Theologie studiert und ist mit einer Arbeit über Max von Schenkendorf promoviert worden. Er hat zahlreiche Studien zu Jung-Stilling veröffentlicht und im Internet ein umfassendes Jung-Stilling-Archiv aufgebaut. Martin Völkel, Jahrgang 1940, hat in Münster und Marburg Evangelisch Theologie studiert. Er hat seinerzeit mehrere neutestamentliche Untersuchungen verfasst. Lange Jahre war er Pfarrer in Dortmund; aus dieser Tätigkeit sind mehrere Predigtveröffentlichungen hervorgegangen. Kürzlich hat Völkel unter dem Titel Eine Kindheit im Krieg und kargen Land. Ländliche Erinnerungen 1940-1959 (Nordhausen 2006) autobiographische Aufzeichnungen (mit einer bemerkenswerten religiös-kulturellen Schilderung des Siegerländer Pietismus) veröffentlicht. Schließlich hat er jüngst eine umfangreiche Jung-Stilling-Biographie abgeschlossen, die im Juni 2008 im Druck erschienen ist und noch anzuzeigen sein wird.

Gegenüber der Werkausgabe sämtlicher Schriften Jung-Stillings, Stuttgart 1835-1838, die 1979 nachgedruckt wurde, geht diese Ausgabe des Grauen Mannes auf die originale Gestalt jener Zeitschrift zurück.

Die Herausgeber geben akribisch die originale Gestalt der von Jung-Stilling herausgegebenen Hefte wieder. Der ursprüngliche Satzspiegel der Hefte wird nachgebildet bis in die Zeilen, die Silbentrennungen und die Gliederungen des Druckes hinein. Die Entscheidung für diese Akkuratesse wird vermutlich nicht leicht gefallen sein, denn ihren Vorteilen steht der Nachteil einer gewissen Beschwerlichkeit für das lesende Auge gegenüber, das über eine Vielzahl von Abstandszeichen hinweg jeweils den Anschluss finden muss. Man könnte auch urteilen, dass hier viel Platz verloren geht. Die Treue gegenüber dem Original geht so weit, dass auch dessen Druckfehler übernommen werden.

Die Anmerkungen bieten eine reiche Kommentierung der Stillingschen Texte; hierzu gehören insbesondere die Hinweise auf zeitgenössische Zusammenhänge. Hier und da mag sich auch Entbehrliches finden; so werden die Bibelstellen, auch wenn sie im Text eindeutig und vollständig angegeben sind, in den Anmerkungen noch ein zweites Mal notiert. Ungewöhnlich ist es, dass bei neuerer Literatur die Internationalen Standardbuchnummern (ISBN) vermerkt werden. All´ dies aber zeigt das Bemühen der Herausgeber, nicht nur der Wissenschaft zu dienen, sondern auch dem wenig vorgebildeten Leser über die Hürden des Verstehens hinwegzuhelfen. Mancher Wink gilt dem möglichen weiteren Studium des Lesers. Darin führen die Herausgeber ihrerseits, so wird man es verstehen dürfen, das volkschriftstellerische Anliegen des Grauen Mannes weiter.

In diesem Sinne würde freilich eine an den Anfang gestellte Einführung in das Werk nützlich sein, wie sie tatsächlich wohl ursprünglich vorgesehen war. Fände man auch die Erläuterungen der Herausgeber zu den Maßgaben ihrer Edition sogleich am Anfang ihres Werkes, entfiele bei seiner Rezeption ein gewisses retardierendes Moment.

Am Schluss der Bände wäre eine Bibliographie angenehm als ein Überblick über die von Jung-Stilling angeführten Werke sowie weitere zeitgenössischen Quellen und die von den Herausgebern benutzte Sekundärliteratur. Auch Personen- und Sachregister wären wünschenswert, die das Nachschlagen in dem ja naturgemäß unübersichtlichen Werk erleichtern würden. Möglicherweise dürfen solche ergänzenden Register noch erwartet werden.
Es ist sehr zu begrüßen, dass der Graue Mann als eines der zentralen Werke Jung-Stillings, als ein spannendes Buch und bedeutendes Dokument der Theologie-, Kirchen- und deutschen Geistesgeschichte nun wieder leicht zugänglich ist. Und es ist ein hohes Verdienst der beiden sachkundigen Herausgeber, in großer Sorgfalt und aus umfassender Erforschung der Zeitgeschichte heraus in den Anmerkungen eine Kommentierung der Texte erarbeitet zu haben, die allererst dem historischen Verstehen die Wege ebnet und deshalb alle künftige Beschäftigung mit Jung-Stilling begleiten wird.

1 Vgl. besonders Max Geiger: Aufklärung und Erweckung. Beiträge zur Erforschung Johann Heinrich Jung-Stillings und der Erweckungstheologie. Zürich 1963 (BSHST 1).
2 S. seine Lebensgeschichte, 1777-1804; eine vollständige, mit Anmerkungen versehene Ausgabe (Darmstadt 1976, 2. Aufl. 1984) hat Gustav Adolf Benrath vorgelegt.
3 Briefe an Kant, hg. v. Jürgen Zehbe. Göttingen 1971, S. 73.
4 Bei Benrath (wie Anm. 2) in den angehängten Dokumenten zur Lebensgeschichte Jung-Stillings, S. 683-690, abgedruckt.
5 Erschienen in Nürnberg 1795 bis 1816 in 30 Heften, 1128 Seiten umfassend.
6 G.E.Lessing: Über den Beweis des Geistes und der Kraft. Braunschweig 1777.
7 Ein Heimweh muß doch eine Heimat haben. Annäherungen an Leben und Werk 1740-1817. Nordhausen 2008.

Stephan Bitter


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