Matthias Baumer

Private und nichtstaatliche Armenfürsorge
in der Berner Landgemeinde Worb im 19. Jahrhundert

Band 4 der Schriftenreihe: Berner Forschungen zur Regionalgeschichte

Rezension


Die "Soziale Frage" war für die Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts eines der großen, wenn nicht sogar das zentrale Thema ihrer Zeit. Auch im Kanton Bern gehörten Armut und Armutsbekämpfung zu den dringendsten Fragen. Die beiden hier vorzustellenden Publikationen untersuchen dieses Feld auf kommunaler Ebene. Es handelt sich um zwei im Dezember 2002 am Historischen Institut der Universität Bern eingereichte Lizentiatsarbeiten, die 2004 in überarbeiteter Form in der Reihe "Berner Forschungen zur Regionalgeschichte" erschienen sind. Ein Aufsatz der beiden Autoren zum gleichen Thema findet sich außerdem in der Worber Geschichte von Heinrich R. Schmidt. Beide Arbeiten behandeln Armut und Fürsorge in der Gemeinde Worb in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dabei beschäftigt sich Rafael Schläpfer mit der Armutspolitik der Einwohnergemeinde Worb, Matthias Baumer dagegen mit der privaten, freiwilligen und nichtstaatlichen Fürsorge. Dieser Aufteilung entspricht eine unterschiedliche konzeptionelle Ausrichtung: Schläpfer lässt sich vor allem von der kritischen Diskussion der Sozialdisziplinierungsthese anregen, Baumer von der Sozietäten- und Vereinsgeschichte.

In der Arbeit von Rafael Schläpfer geht es über weite Strecken um die Umsetzung der kantonalen Armenreform von 1857/58. Einleitend beschreibt Schläpfer knapp die ökonomische Entwicklung als Hintergrund des Armutsproblems und stellt die Berner Armengesetze von 1847 und 1857/58 dar. Anschließend zeigt er auf, wie die neue Organisation des kommunalen Armenwesens in Worb nach 1858 funktionierte. Im letzten Kapitel fragt er, nach welchen Kriterien die Gemeinde Unterstützungsbegehren abwies. Dabei erfasst Schläpfer mit der Auswertung von Rechnungen, Protokollen und Reglementen einerseits die Strukturen der Armenunterstützung, andererseits aber auch Deutungen und Praktiken auf der Handlungsebene. Schläpfer zeigt auf, wie Worb sich im Vollzug über die Bestimmungen. des Armengesetzes vom 1. Juli 1857 hinwegsetzte. Statt die Ausgaben den Einnahmen anzupassen, deckte die Gemeinde zugunsten der Fürsorgeempfänger die wachsenden Defizite aus allgemeinen Steuern. Nicht immer allerdings nutzten die Behörden vor Ort ihre Handlungsspielräume zum Wohl der Armen. Weil ab 1857 nicht mehr die Heimat-, sondern die Wohngemeinde für die Armenfürsorge zuständig war, schob Worb eigene Arme in andere Gemeinden ab und wehrte sich gegen den Zuzug von potenziellen Unterstützungsempfängern. Diese Praxis schränkte die Niederlassungsfreiheit ärmerer Menschen ein. Der Kreis der Unterstützten umfasste vor allem Alte, Invalide und Kinder, insgesamt aber mehr Frauen als Männer. Junge Menschen und Eltern mit wenigen Kindern galten als arbeitsfähig und hatten schlechte Chancen auf Unterstützung. Eine wichtige Rolle für die Zuteilung von Beiträgen spielte das sittliche Verhalten. Dabei waren es die Gemeindebehörden, die vor Ort disziplinierend auftraten. Diese Disziplinierung diente zunächst einmal dazu, konkrete kommunale Aufgaben zu erfüllen. Außerdem koordinierten die Gemeinden in den Amtsarmenversammlungen zunehmend ihre Aktivitäten auf der Ebene des Amtsbezirks.

Matthias Baumer skizziert zuerst die großen Entwicklungslinien des Armutsbegriffs, der Philanthropie und der Armenfürsorge durch Sozietäten und Vereine. Anschließend geht er kurz auf die kommunale Armenfürsorge in Worb ein und behandelt danach zehn verschiedene Organisationen, die er als private, freiwillige und nichtstaatliche Fürsorgeinstitutionen klassiert. Schließlich diskutiert er personelle Vernetzungen der Vereine und erstellt ein Drei-Phasen-Modell der privaten Fürsorge Worbs im 19. Jahrhundert. Nach diesem Modell entstanden in der ersten Phase von 1807 bis 1847 private Fürsorgeorganisationen spontan als Reaktion auf die Teuerungskrisen von 1816/17 und 1847 sowie auf den harten Winter 1829/30. Sie koordinierten vorübergehende Aktivitäten der lokalen Oberschichten und lösten sich nach der Krise jeweils wieder auf. In der zweiten Phase von 1847 bis 1857/60 kamen die Bürger mit dauerhaften privaten Fürsorgeinstitutionen in Kontakt. Diese Umbruchphase "diente in gewisser Weise der Emanzipation der Einwohner Worbs, mit Hilfe organisierter Institutionen der Not und sozialen Missständen aus eigenem Antrieb entgegenzutreten". In der dritten Phase von 1857/60 bis 1900 hatten sich die Einwohner Worbs vielfältig organisiert und schlossen Lücken, welche die staatliche Armenfürsorge offen ließ. Die private Fürsorgetätigkeit war nicht mehr nur auf die Oberschicht beschränkt. Diese entdeckte mit Stiftungen und Fonds neue Möglichkeiten, sich besonders wohltätig zu zeigen. Baumer bemüht sich, die definitorische Trennung von "staatlichen" und "privaten" Fürsorgeinstitutionen aus der Literatur und den vorliegenden Quellen zu verfeinern. Die Grenzen zwischen beiden Bereichen erweisen sich dabei als fließend. Viele Organisationen könnten sowohl dem einen wie auch dem anderen Sektor zugerechnet werden, ja die "nichtstaatliche Fürsorge im Untersuchungszeitraum war lange Zeit mit der staatlichen nahezu identisch". Gerade im Erziehungswesen war die private Fürsorge ebenso disziplinierend wie die staatliche. Am erfolgreichsten schließlich war sie dann, wenn sie mit dem Staat zusammenarbeitete. Hingegen gaben private Organisationen Frauen mehr Möglichkeiten in der Öffentlichkeit zu wirken als staatliche Ämter.

Die beiden Autoren geben ausführlich Diskussionen zur Armenfürsorge in der Frühen Neuzeit wieder. Zusammenhänge zu den Sozialgesetzen und -versicherungen auf eidgenössischer Ebene müssen Leserinnen und Leser selber herstellen. Die offensichtlich "erfolglose" private Fürsorge diente möglicherweise gar nicht primär den sozialpolitischen Zielen, an denen sie aus heutiger Perspektive scheiterten. Die Literatur zur betrieblichen Sozialpolitik zeigt, dass Fürsorge auch dazu diente, kollektive Identitäten zu stützen (oder zu unterlaufen). Ausserdem weisen die beiden Autoren nicht darauf hin, dass die Reform in Gemeinden mit anderen strukturellen Voraussetzungen möglicherweise auch Folgen hatte, die in Worb nicht sichtbar wurden. Schläpfer streicht heraus, dass Worb in der Notarmenpflege im kantonalen Vergleich 1858/60 deutlich unterdurchschnittliche Lasten zu tragen hatte. Später lag die Belastung der Gemeinde noch leicht unter dem kantonalen Durchschnitt. Das Beispiel Worb zeigt viele wichtige und interessante Aspekte der Armenreform von 1857/58 auf. Insgesamt geben beide Arbeiten einen überzeugenden, quellennahen Einblick in die Armenfürsorge einer bernischen Gemeinde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie sind lesenswerte und wichtige Beiträge (nicht nur) zur Geschichte des Kantons Bern im 19. Jahrhundert.

Daniel Flückiger


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