Klaus Schlupp

Schule, Staat und Kirche

Die katholische Volksschule im Bistum Mainz 1830-1877

Rezension


Die am Institut für Katholische Theologie der Universität Osnabrück entstandene Dissertation untersucht einen Abschnitt der Schulgeschichte der Diözese Mainz auf theologisch-kirchenhistorischem Hintergrund und betritt damit Neuland in der For­schung.

Einleitend (§ 2) charakterisiert Sch. den bisherigen Forschungsstand als mangelhaft (S. 15); nicht zuletzt kirchenhistorische Darstellungen (H. BRÜCK, O. PFÜLF) zeigten sich zeitbedingt als Werke mit starker apologetischer Tendenz (S. 9). Als Forschungsdesiderat erwies sich eine Untersuchung zum Klerus der Diözese Mainz in der Zeit des Vormärz (S. 18). Ein Überblick über das Verhältnis Kirche, Staat und Schule sowie zur Schulgesetzgebung im Großherzogtum Hessen schließt die Einleitung ab. § 3 stellt die Entwicklung des Schulwesens in den Vorgängerstaaten des Großherzogtums Hessens bis zur Neuordnung und Vereinheitlichung des Schulwesens (1827) dar. § 4 thematisiert das Verhältnis von Kirche und Schule. Der erste Abschnitt beschäftigt sich mit der Lage im Zeichen des vormärzlichen Liberalismus (S. 84), der zweite mit der Situation der Volksschule während des Pontifikates von Bischof W. E. v. Ketteler (1850-1877). Der erste Abschnitt behandelt eine Fülle von Detailfragen (z.B. staatliche Bestrebungen zur Schaffung von Simultanschulen; das Schuledikt vom 6. 6. 1832, die Entwicklung des Schulwesens unter den Bischöfen Burg, Humann und Kaiser, Auswirkungen der Erei­gnisse von 1848 auf die Schulfrage).

Gegenüber bisherigen Forschungen bringen v. a. die Ausführungen zur Widerstandsbewegung gegen die Simultanschulen neue Erkenntnisse. Der Widerstand ging vom Ortsklerus aus. Der 1818-1830 amtierende Kapitularvikar Humann zeigte sich passiv und der Regierung gegenüber nachgiebig (v.a. S. 114-116, 181). Verf weist nach, daß die Thesen von L. Lenhart und A. Ph. Brück zur Haltung Humanns unhaltbar waren (S. 116). Erst später änderte Humann seine Haltung. Aufgezeigt wird auch die unein­heitliche Haltung des Klerus im Bistum Mainz in der Schulfrage. Sch. unterscheidet drei Hauptgruppen: die Vertreter des sog. Ersten Mainzer Kreises, eine große Gruppe von Priestern, die unauffällig ihre Pflicht taten, und schließlich jene, die dezidiert auf­klärerische Gedanken vertraten. Von letzteren wird v. a. der Direktor des Bensheimer Lehrerseminars Ries eigens vorgestellt (S. 137-140). Die Schulfrage findet sich bei Bischof v. Ketteler der Kirchenfrage nachgeordnet, obwohl er 1852 ein auf eine ganzheitliche Erziehung zielendes Schulprogramm vorge­legt hatte. Bezüglich der missio canonica für die Lehrer (s. v. a. S. 205) setzte er bischöfliches Recht gegen Staatsrecht (S. 186). Wichtige Schulprojekte des Bischofs waren der Aus­bau und die Versorgung der Mädchenschulen mit geistlichen Lehrerinnen (Schwestern der Göttlichen Vorsehung, Englische Fräulein) sowie die angestrebte Etablierung der Schulbrüder. Auf Grund der Quellen differenziert Sch. zwischen drei Phasen in der Schulpolitik v. Kettelers: Konfrontation mit dem Staat und unnötige Konflikte (1850­1859), pragmatische Politik (1859-1872) und schließlich die Zeit des Kulturkampfes (1872-1877).

§ 5 stellt ausgewählte regionale Beispiele zur praktischen Auswirkung der Frage nach dem katholischen Schulwesen vor. Detailliert behandelt werden der Konflikt um die Schulen in Mainz sowie die Lage katholischer Schulen in protestantischem Umfeld (Darmstadt, Gießen Friedberg).

§ 6 behandelt zunächst die Themen Lehrerbesoldung, Lehrerbildung und Lehrerver­eine sowie Lesezirkel. Die Besoldung war dürftig, man kann sogar von Materieller Not der Lehrerschaft (S. 393) sprechen. Zu einem befriedigenden Abschluß kam die Besoldungs­frage erst durch das Volkschullehrergesetz (1874). Hinsichtlich der Bildung weist der Verf. den immer dringlicher werdenden Ruf nach Professionalisierung auf. Sehr ausführlich bearbeitet ist die Haltung der Lehrer zu den Ereignissen des Jahres 1848. Sch. ermittelt, daß 1848 unter 23 demokratischen Lehrern in Rheinhessen 11 katholisch waren (S. 424). Von besonderem Interesse ist die von Sch. ausgewertete und 1854 auf Anweisung des Bischofs vorgenommene Befragung der Geistlichen zum Schulwesen. Ein Drittel der katholischen Lehrer hatte sich danach der Wählerei schuldig gemacht. Auch wenn keine vollständigen Daten vorliegen, dürfte der Trend zuverlässig sein (S. 428). Die Stellung des Lehrers im Spannungsfeld zwischen Fortschritt und Kirch­lichkeit während des Episkopates v. Kettelers zeichnet Sch. in einem weiteren Ab­schnitt auf. Der Lehrer sollte zum Transformator ultramontaner Kirchlichkeit (S. 442) wer­den, wozu nicht zuletzt ab 1853 regelmäßig stattfindende Lehrerexerzitien dienten. Insgesamt vertrat der Bischof nach Sch. ein sakrales Lehrerbild.

In der bisherigen Forschung zur Schulgeschichte im Bistum Mainz wurden die Rolle und die Situation der Lehrerinnen kaum beachtet. Die Quellen sind nicht hinreichend, um ein umfassendes Bild (S. 463) zu zeichnen, da meist nur (schwerwiegende Konfliktfälle) dokumentiert sind. Sch. Hebt auch auf der Basis eines Vergleichs mit staatlichen Ordnungen von 1827, 1832 und 1874 hervor, daß die katholische Kirche eine insgesamt powsitive Haltung zum Einsatz weiblichen Lehrerinnenpersonals hatte, wogegen man staatlicherseits bis 1874 sehr skeptisch blieb. Eigens behandelt wird die Lehrerinnenausbildung.

Bei der Darstellung der sozialen Situation der Lehrerinnen zeigt Sch. das Ideal­bild auf, das v. Ketteler von der Lehrerin hatte: fromm, bescheiden, sittsam. Der Bi­schof bevorzugte daher geistliche Lehrerinnen. Sie hatten in seinen Augen auch den Vorteil einer besseren sozialen Herkunft gegenüber weltlichen Lehrerinnen. Das Vorur­teil v. Kettelers, weltliche Lehrerinnen betrachteten den Beruf als reinen Brotberuf, kann der Verf. als Zu einseitig (S. 486) widerlegen.

Ausführlich wendet Sch. sich dem Unterricht in der Volksschule zu (§ 7), wobei ein besonderes Gewicht auf den Religionsunterricht gelegt wird. Vorgestellt werden die Konzepte der Lehrerseminardirektoren Ries, Goy und Ohler. Der Amtsantritt v. Kette­lers war auch für die Zielbestimmung des Religionsunterrichtes ein Paradigmenwechsel (S. 509).

Detailliert stellt der Verf. die im Untersuchungszeitraum verwendeten Lehrbücher (Katechismus und Biblische Geschichte) vor. Eine 1841 durchgeführte Befragung des Klerus zum 1837 im Bistum Mainz eingeführten Katechismus von Schmid zeigte keine Unterschiede zwischen den drei vertretenen theologischen Schulen (Universität Mainz, Aschaffenburg, Colmar-Liebermann-Seminar) (S. 520). Der Diözesankatechismus von 1844 war ein Produkt eines eigenständigen Mainher Weges in der Schulbuchfrage (S. 526) und durch die Einbeziehung des Klerus durch Bischof Kaiser auch ein gemeinschaftliches Werk des Mainzer Klerus (S. 528). Die 1855 erfolgte Einführung des Katechismus von Deharbe war, wie der Verf. aufweist, eine einsame Entscheidung v. Kettelers. Zwar war der Kle­rus 1852 befragt worden, doch liegen keine einschlägigen Akten vor (S. 529). Äußerun­gen von Lehrern hatten keinerlei Beachtung gefunden (S. 533). Ein ähnliches Vorgehen beobachtet Sch. bezüglich der Lehrbücher der Biblischen Geschichte.

In einem eigenen Abschnitt bespricht der Verf, die außerhalb des Religionsunterrich­tes verwendeten Lehrbücher und analysiert sie auf dem Hintergrund ihres konfessionel­len Charakters. - Nach der Zusammenfassung der Ergebnisse (§ 8) legt Sch. in einem Anhang (§ 9) einschlägige Quellen vor, die die Kapitel weiter ergänzen und das Darge­stellte vertiefen.

Die Arbeit ist sehr akribisch; sie schließt eine der zahlreichen Forschungslücken in der Mainzer Kirchengeschichte. Positiv fällt v.a. ins Gewicht, daß eine große Fülle von z.T. bisher nicht oder nur unzureichend bearbeitetem archivalischem Material herange­zogen wurde. Vor allem Detailfragen, wie etwa die Widerstandsbewegung gegen die Simultanschulen, die vereinzelten Stimmen von Priestern, die sich für die Kommunal­schulen aussprachen, die Ansätze der Vertreter des Ersten Mainzer Kreises, die Auflö­sung der Kommunalschulen, die Lage der katholischen Schulen in verschiedenen Re­gionen des Bistums, die Umsetzung des Programms v. Kettelers und die daraus er­wachsenden Probleme für jene Lehrer, die in den 1820er und 1830er Jahren ausgebildet worden oder den demokratischen Ideen hingeneigt waren sowie die Auswirkungen des Kulturkampfes werden dadurch aus einem neuen Blickwinkel betrachtet und anschau­lich illustriert. Bisher vertretene einseitige Thesen konnten widerlegt werden. Das Wir­ken Bischof Kaisers (1835/50) für die Schulen wird erstmals ausführlich gewürdigt; das Wirken v. Kettelers differenzierter betrachtet. Herausgearbeitet wird auch der unter­schiedliche Führungsstil der Bischöfe. Wichtig ist auch der Befund, daß die verschiede­nen Schulen der Klerusausbildung sich offensichtlich auf dem Gebiet des Unterrichtes nicht signifikant auf die Praxis ausgewirkt hatten.

Martina Rommel (Mainz)


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