Robin Keen

The Life and Work of
Friedrich Wöhler (1800 - 1882)

Edited by Johannes Büttner. Edition Lewicki-Büttner, vol. 2.

Rezension


Obwohl Friedrich Wöhler zu den Gründungsvätern der Chemie zählt, haben sich Wissenschaftshistoriker mit ihm erstaunlicherweise kaum beschäftigt. Die umfassendste Darstellung seines Lebens bildet die in den 1970er Jahren entstandene Dissertation von Keen, die nun endlich in Buchform und allgemein zugänglich vorliegt, als 2. Band der Edition Lewicki-Büttner. Dem jüngst verstorbenen Liebig-Nachkommen Wilhelm Lewicki und dem aktuellen Herausgeber Johannes Büttner, dem als "Helfer" der bekannte Chemiehistoriker William Brock und der Autor selbst zur Seite standen, kann hierfür nicht genug gedankt werden. Sie haben die 30 Jahre alte Dissertation neu editiert, die bibliographischen Daten wie auch viele Formeln auf ein einheitliches Format gebracht und dem Werk die komplette Publikationsliste Wöhlers beigefügt. Außerdem enthält das Buch zwölf Illustrationen, die überwiegend auf zeitgenössischen (Portait)fotos beruhen.

Wöhler, 1800 in dem heute zu Frankfurt gehörenden Eschersheim geboren, entzieht sich der Zuordnung zu einer Teildisziplin der Chemie, lediglich der theoretischen Chemie stand er zurückhaltend gegenüber - sicher einer der Gründe, weshalb er in dem an chemischen Kontroversen reichen 19. Jahrhundert meistens nicht im Rampenlicht stand, ganz im Gegensatz zu "Kämpfern" wie Liebig. Dem eingeschränkter öffentlichen Mitteilungsbedürfnis stand allerdings ein überaus intensives privates gegenüber: Aus der Korrespondenz mit seinen Lieblingsbriefpartnern Berzelius und Liebig haben weit über 1000 Briefe überlebt. Aus diesen wird vor Keen ausgiebig zitiert - und erfreulicherweise nicht nur über chemische Sachverhalte.

In 23 Kapiteln zeichnet der Autor Leben und Werk Wöhlers nach, wobei sich biographische und wissenschaftliche Kapitel abwechseln. Bereits als Kind ausgeprägte naturwissenschaftliche Interessen aufweisend (Sammlung von Mineralien, eigenes Labor zuhause Lektüre "richtiger" wissenschaftlicher Literatur schon als Schüler u.a.) studiert Wöhler zunächst in Marburg und Heidelberg Medizin, das Fach, in dem er auch promoviert wird (1823). Unter dem Einfluss Leopold Gmelins "konvertiert" er zum Chemiker (ohne allerdings sein Interesse an physiologisch-chemischen Fragestellungen aufzugeben) und geht als Postdoktorand zu Berzelius nach Schweden. Der Stockholmer Aufenthalt bei diesem Groß- und Altmeister der Chemie, dessen Analysetechniken er erlernt und übernimmt, wird zum Schicksalsjahr: Aus dieser Zeit stammt Wöhlers uneingeschränktes Bekenntnis zum Experiment, zur Chemie als Handwerk und seine Verehrung und spätere Freundschaft zu seinem Lehrer, den er zeitlebens bewundert, dessen Ratschlag er immer wieder sucht und dessen umfangreiche Schriften und Lehrbücher er praktisch während seines ganzen Lebens ins Deutsche übersetzt.

Nach Deutschland zurückgekehrt arbeitet Wöhler zunächst in Berlin (1825-1831), dann in Kassel (1831-1836), wohin die Familie Wöhler nicht zuletzt wegen einer großen Choleraepidemie in Berlin gezogen war, und schließlich dann ab 1836 bis zu seinem Lebensende in Göttingen, wo er im Übrigen wie sein dortiger Vorgänger Stromeyer der medizinischen Fakultät angehörte (mit Prüfungsrechten in der Philosophischen Fakultät, zu der auch die Chemie zählte). Außerdem war er Generalinspekteur der Apotheken im Königreich Hannover.

Zu den Höhenpunkten des wissenschaftlichen Teils des Buchs zählen die Kapitel über die Entdeckung des Aluminiums (Wöhler stellte dieses Element erstmals in reiner Form her), die Diskussion über eines der Zentralprobleme der frühen organischen Chemie, die Isomerie organischer Verbindungen und in diesem Zusammenhang die Geschichte der Wöhlerschen Harnstoff-Synthese, das Liebig/Wöhlersche Gemeinschaftsprojekt über den Benzoyl-Substituenten, das von entscheidender Bedeutung bei der Etablierung der organischen Strukturlehre war, die Untersuchungen über die Cyansäure, die Cyanate und die Harnsäure. Die anorganische Chemie gelangte in den Göttinger Jahren zur vollen Blüte - es gibt praktisch keines der zu Wöhlers Lebzeiten bekannten chemischen Elemente, mit dem er sich nicht befasst hat. Dem Autor gelingt es, diese Entdeckungen und Entwicklungen in einer für heutige Leser verständlichen Form zu schildern, ohne den Zeitbezug in Formel- und Schriftsprache zu leugnen. Gerade bei historischen Texten gelingt diese "Übersetzungsaufgabe" nicht immer, und die entsprechenden Werke sind häufig nur Spezialisten zugänglich.

Aber es ist noch etwas anderes, was den Wissenschaftler Wöhler für heutige Kollegen interessant macht: Seine in den erwähnten Briefen geschilderten Gedanken und Geschichten (auch Klatschgeschichten) über die Wissenschaft Chemie und die Menschen, die sie betreiben. Ob es sich um Wöhlers Bemerkung zu Kurzmitteilungen handelt, die er stets nur mit W. initialisierte ("Bei Kleinigkeiten wäre es müßig und angeberisch den vollständigen Namen anzugeben"): Was für ein Abstand zu unserer ich-süchtigen Welt! Oder die wechselvollen, teilweise dramatischen Beziehungen innerhalb des Dreigestirns Berzelius-Liebig-Wöhler. Der erste sozusagen als Gottvater der Chemie über allem und allen schwebend, mit gelegentlich sehr harten Urteilen über Liebig und "die anderen Franzosen" (Liebig hatte bei Gav-Lussac studiert), die als zu schnell, zu spekulativ und unseriös abqualifiziert werden. Ein Vorurteil, das sich bekanntlich in Deutschland lange (bis nach dem 2. Weltkrieg) gehalten hat. Dann Liebig, dessen Motto wenigstens zeitweise "Viel Feind, viel Ehr" gelautet haben muss (die Streitigkeiten mit Berzelius und Mitscherlich werden im Buch ausführlich behandelt; kleinere Gegner werden en passant, im Nebensatz erledigt). Und dazwischen Wöhler, zum Teil Vermittler, zum Teil Beichtvater, aber auch Spötter, mit heute noch genießbarem Humor (Wöhler publizierte gelegentlich unter dem Pseudonym S.C.H. Windler, dessen französische Version - so in einem Brief an den frankophilen Liebig - Ch. Arlantan lautete).

Traditionen leben dann, wenn sie von Spätergeborenen nachvollzogen werden können. Wie in den Biographien Liebigs von Brock und Kolbes von Rocke - um zwei Beispiele aus neuerer Zeit zu nennen - gelingt das Keen für Leben und Werk Wöhlers. Was schließlich die Edition Lewicki-Büttner anbelangt, kann man nur hoffen, dass sie noch lange fortbestehen möge.

Henning Hopf
Institut für Organische Chemie
Technische Universität Braunschweig
DOI: Io.looz/ange.200585315


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