Roland Stark

Die Dehmels und das Kinderbuch

bibliothemata, Band 21

Rezension


Begegnet heute der Name Dehmel, löst er wohl eher fragendes Aufhorchen denn von Kenntnis getragene Aufmerksamkeit aus. Allenfalls literaturhistorisch gut Bewanderte werden an den Dichter Richard Dehmel (1863-1920), einige wenige vielleicht sogar an seine erste Frau Paula (1862-1918) denken. Richard Dehmels Werke gehören heute nicht mehr zum Lektürekanon, und vermutlich wären er und seine Frau Paula, die ohnehin in kaum einem augemeinliterarischen Lexikon mit einem eigenen Artikel gewürdigt wird, völlig vergessen, wenn die Kinderliteraturforschung nicht ihre Bedeutung für die Entwicklung einer ästhetisch anspruchsvollen Kinderliteratur erkannt hätte.

Richard Dehmel, der zunächst in Berlin einem literaturfernen Brotberuf in der Versicherungswirtschaft nachging, bevor er 1895 nach dem Erfolg seines Lyrikbandes Aber die Liebe die Existenz als freier Schriftsteller riskierte, zählte um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zu den einflussreichsten und erfolgreichsten Dichtern; Frank Wedekind zufolge galt er vor dem Ersten Weltkrieg sogar als größter deutscher Dichter überhaupt. Nach der Jahrhundertwende stand Dehmel im Mittelpunkt des literarischen Lebens in Deutschland. Seine Lesungen waren höchst spektakuläre Ereignisse, und eine weitreichende Korrespondenz insbesondere mit der nachfolgenden Dichtergeneration der Expressionisten zeugt von einer ungewöhnlichen Verehrung, die ihm zuteil wurde und die er genoss.

Dass sich dieser - zumindest in den Augen seiner Zeitgenossen - 'große' Dichter auch für die Kinderliteratur interessierte und sie - von heute her gewertet - in eine avantgardistische Position gebracht hat, wird in der Literaturgeschichtsschreibung höchstens am Rande erwähnt. Roland Stark hat mit seiner Untersuchung Die Dehmels und das Kinderbuch (2004) diese Lücke jetzt geschlossen, und er hat hierbei, wie schon der Titel signalisiert, nicht den wichtigen Anteil übersehen, der Paula Dehmel daran zukommt.

Detailliert mit Selbstaussagen der Protagonisten und dokumentarischen Texten belegt, beschreibt Roland Stark den entscheidenden Einfluss, den Richard und Paula Dehmel sowohl auf den Text als auch auf das Bild im Kinderbuch am Beginn des 20. Jahrhundert hatten. Nach außen hin war Richard Dehmel auch hier dominant, Paula wirkte eher aus dem Hintergrund und ist erst in ihren späteren Jahren aus dem Schatten von Richard heraus getreten. Roland Stark kann aber evident machen, dass Paulas Denkweise, ihre Sprachwelt und ihre Empfindungen auf Richards kinderliterarisches Werk von Anfang stark eingewirkt haben.

Im Jahr 1900 erscheint Richard und Paula Dehmels berühmtestes und zugleich umstrittenstes gemeinsames Kinderbuch Fitzebutze mit Bildern von Ernst Kreidolf, das der Gattung Kinderbuch des 20. Jahrhunderts beträchtliche Impulse gegeben hat. Es erweist seine 'Modernität' darin, dass hier nicht Erwachsene zum Kind zu sprechen scheinen, sondern dem Kind das Wort gegeben wird und dem Bild, der Illustration die Freiheit der kindlichen Phantasie. Was von heute aus als Fortschritt beurteilt wird, ging allerdings an der damaligen Realität des Buchmarktes vorbei. Die von Roland Stark ausführlich dargelegte langjährige Entstehungsgeschichte zeigt die Schwierigkeit des ambitionierten Unternehmens, einschließlich der anfangs nicht konfliktfreien Zusammenarbeit von Richard Dehmel mit Ernst Kreidolf, und der von ihm beschriebene Verlagswechsel von Insel zu Schaffstein dokumentiert nicht zuletzt auch das finanzielle Risiko bzw. Scheitern. Die in der Erinnerung der Beteiligten geglätteten Vorgänge, auf die sich bisherige Darstellungen in der Forschung stützten, sind nach Roland Starks Recherchen also durchaus kritisch zu sehen.

Die Scheidung des Ehepaars bedeutete für Paula einerseits einen wichtigen Schritt in ihre Selbstständigkeit als Autorin, andererseits aber nicht die völlige Aufgabe der literarischen Zusammenarbeit. Ob diese freilich die Charakterisierung "freundschaftlich" verdient, wie man im Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur von Klaus Doderer (Bd. 1, 1975, S. 292) lesen kann, ist angesichts der von Roland Stark aus dem Briefwechsel präsentierten Zitate fragwürdig. In künstlerischen Belangen beanspruchte Richard Dehmel nach wie vor Dominanz und erwies sich, ungeachtet meist feinfühliger Stellungnahmen, als autokratisch urteilender Wegbegleiter.

Paula Dehmel stellt ihre literarische Eigenständigkeit mit den Rumpumpel-Gedichten unter Beweis, in denen sie der Gattung Kindergedicht einen neuen Sprachgestus und einen neuen Ton erschließt. An dem von Richard herausgegebenen Buntscheck beteiligte sie sich unter anderem mit thematisch progressiven, heftige Kontroversen auslösenden Singine-Geschichten und im Jahre 1912 übernahm sie die Herausgeberschaft von Meidingers Kinderkalender. Bereits diese wenigen Hinweise lassen erkennen, wie Paula Dehmel sich zur renommierten Kinderschriftstellerin profilierte. Roland Stark hat diese Entwicklung noch durch zahlreiche weitere Einzelheiten untermauert. Es ist eines der Ergebnisse seines Buches, dass er Paula Dehmel damit den ihr zukommenden zentralen Platz in der Kinder- und Jugendliteratur zugewiesen hat. Sein entsprechendes Fazit heißt: "Paula war für die Kinderlyrik zugleich das auslösende Element, das Kontinuum und die tragende Kraft. An ihr war avantgardistisch, was ursprünglich war. [...] Damit überwand sie die bestehenden Konventionen." (S. 162)

Der in der wissenschaftlichen Rezeption durchgängigen These von der Sonderstellung der Dehmels widerspricht auch Roland Stark nicht, sie lässt sich seiner Auffassung nach aber nur halten, wenn sie Paula Dehmel ausdrücklich einschließt, was keineswegs immer der Fall ist. Anders als Paulas kinderliterarisches Werk sei das von Richard sehr uneinheitlich in seiner Substanz - je nach Schaffensphase. Von herausragender Qualität seien die Anfänge aus der gemeinsamen Arbeit'mit Paula, nach der Lösung von ihr sei er nur noch der offene Revolutionär gewesen, der mit der Brandfackel die Konventionen ausräuchern wollte, und nach der Trennung von ihr sei sein Interesse an der Kinderliteratur völlig erlahmt. Diese differenzierte Sicht, die Roland Stark einsichtig begründet, lässt beispielsweise auch verstehen, warum Richard Dehmels Texte trotz der begeisterten Aufnahme des Fitzebutze durch den Hamburger Jugendschriftenausschuss - die Besprechung ist im Anhang dokumentiert - von den Reformpädagogen später sehr kritisch bis ablehnend beurteilt wurden.

Die Einschätzung von James Krüss in einem Essay von 1959, die Dehmels seien "Erneuerer des deutschen Kindergedichts und die konsequentesten Dichter für das emanzipierte Kind", ist nach wie vor gültig und auch Roland Stark, der dieses Diktum im Vorwort seines Buches zitiert, will sie nicht revidieren. Die Ergebnisse seiner informativen und spannend zu lesenden Studie fordern aber dazu auf, die pauschale Qualifizierung "die Dehmels" zu vermeiden und stattdessen das Werk und die Wirkung von Paula und Richard differenziert zu würdigen.

Franz-Josef Payrhuber


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