Sonja Matter
Verletzte Körper

Eheliche Gewalt vor dem Luzerner Scheidungsgericht zu Beginn der 1940er Jahre


Rezension

Die Arbeit von Sonja Matter, die zuerst 2003 als Lizenziatsarbeit vorgelegt wurde, gehört zu den besten Abschlussarbeiten, die am Historischen Institut der Universität Bern in diesem Jahr eingereicht wurden und wird nun in der neuen Reihe des Historischen Instituts, "Berner Forschungen zur Neuesten Allgemeinen und Schweizer Geschichte", publiziert. Mit der "ehelichen Gewalt" behandelt Matter ein Thema, das in den Geschichtswissenschaften für die Schweiz im 20. Jahrhundert bislang nur punktuell bearbeitet wurde. Eheliche Gewalt war bis in die 1970er-Jahre einem starken gesellschaftlichen Tabu unterworfen, Gewaltakte in der Ehe wurden als Problem des Privaten behandelt und kaum öffentlich diskutiert, weshalb vergangene Konzeptionen dieses sozialen Phänomens schwer fassbar gemacht werden können. Matter bedient sich daher der diskursiven Untersuchungsebene der Jurisprudenz, um zu Aussagen zu gelangen, welche Vorstellungen mit ehelicher Gewalt bis Mitte des 20. Jahrhunderts verbunden waren. Anders als der Titel suggeriert, behandelt die Arbeit nicht nur die Scheidungspraxis der 1940er-Jahre, sondern zeichnet eine längere Entwicklung der juristischen Konzeption von ehelicher Gewalt nach. Ebenso ist die Arbeit nicht regional-geschichtlich angelegt, vielmehr dient die Untersuchung von Scheidungsprozessen vor dem Amtsgericht Luzern als empirische Basis, um generellere historische Einsichten über das Phänomen der Gewalt in der Ehe zu gewinnen.

Der Sachverhalt Gewalt in der Ehe fand mit dem Scheidungsgrund der "schweren Misshandlung" 1912 Eingang in die schweizerische Rechtsprechung (Art. 138 ZGB), Matter untersucht in einem ersten Teil ihrer Arbeit, wie die "schwere Misshandlung" im schweizerischen Scheidungsrecht kodifiziert und wie dieser Scheidungsgrund durch die Judikatur und die Rechtswissenschaft interpretiert wurde, dabei wird der Zeitraum von 1874 bis 1945 berücksichtigt. Auf einer breiten Quellengrundlage werden wesentliche Entwicklungen im juristischen und politischen Aushandlungsprozess nachgezeichnet und untersucht, wie zwischen tolerierbaren und untolerierbaren Gewaltformen unterschieden wurde. Zum einen handelt es sich dabei um eine kurze Entstehungsgeschichte des genannten Scheidungsgrunds, wie er im schweizerischen Zivilgesetzbuch von 1912 verankert wurde. Analysiert werden hier neben dem Gesetzestext auch die vorangegangenen Diskussionen einer Expertenkommission und im Parlament. Für die Zeit nach 1912 sind es vor allem juristische Kommentare und Aufsätze zum Scheidungsrecht, die Rückschlüsse auf ein jeweiliges Verständnis von ehelicher Gewalt zulassen und sowohl verschiedene Standpunkte innerhalb der Rechtslehre als auch eine Entwicklung in der Interpretation dieses Sachverhalts dokumentieren. Für den historischen Kontext der Praxis des Scheidungsgerichts Luzern Mitte des 20. Jahrhunderts sind insbesondere auch zeitlich weiter zurückliegende Bundesgerichtsentscheide relevant, die ebenfalls in diesem ersten Teil diskutiert werden.

Die Grundlage des zweiten Teils dieser Arbeit bildet die Untersuchung von 216 Scheidungsfällen, die vor dem Amtsgericht Luzern in den Jahren 1940, 1942 und 1944 zur Verhandlung kamen. Der definitorischen Gewalt von Recht und Politik wird hier die Ebene der vermittelten Eherealität gegenübergestellt. Wie Matter aufzeigt, war eheliche Gewalt Anfang der 1940er-Jahre keine Randerscheinung, denn in mehr als einem Drittel der Fälle, in denen eine Scheidung oder Trennung verlangt wurde, berief sich zumindest eine Partei auf den Scheidungsgrund der "schweren Misshandlung". Anhand von Protokollen zu den Scheidungsprozessen, den in den amtlichen Scheidungsdossiers enthaltenen Klage- und Verteidigungsschriften und, soweit sie überliefert wurden, anhand von persönlichen, das heisst nicht durch die Rechtsvertretung gefärbten Schilderungen der Betroffenen, untersucht Matter den Verhandlungsgegenstand der ehelichen Gewalt. Auf der diskursiven Ebene wird analysiert, wie sich das Sprechen über eheliche Gewalt vor dem Amtsgericht gestaltete, wobei die unterschiedlichen Perspektiven der Ehefrauen und Ehemänner als "Opfer" und als "Täter" beziehungsweise "Täterinnen" berücksichtigt werden. Auf der Ebene der sozialen Praxis wird gefragt, welche Funktionen Gewalt in Geschlechterbeziehungen einnehmen konnte und inwiefern Gewalt (de)legitimiert wurde. Auf der praktischen Ebene wird aber auch gefragt, welche Möglichkeiten den Gewaltopfern zur Verfügung standen, um sich der ehelichen Gewalt zu entziehen. Von Bedeutung sind hier sowohl das soziale und familiäre Umfeld der Betroffenen, als auch staatliche Formen der Intervention. Die Untersuchung erfolgt anhand dreier narrativer Fallbeispiele, wobei diese durch Ergebnisse aus der Analyse aller Fälle kornplettiert wird. Abgeschlossen wird dieser zweite Teil der Untersuchung mit einer Darstellung der richterlichen Praxis des Amtsgerichts Luzern.

Für die theoretische Grundlegung der Arbeit bedient sich Matter sowohl eines kultur- als auch eines geschlechter-geschichtlichen Ansatzes. Eine grundlegende Annahme besteht darin, dass Subjekte durch "Erfahrung" konstituiert werden. Verschiedene Forschungsansätze zu diesem beladenen Begriff werden in Bezug auf die eigene Herangehensweise reflektiert: Im Anschluss an jüngere Überlegungen aus der Kulturgeschichte des Körpers fordert Matter die Verschränkung des diskursanalytischen Ansatzes mit einer "individualisierteren" Perspektive. Erfahrungen werden demnach nicht als rein sprachliche Ereignisse betrachtet, sondern bewahren eine "reale" Komponente jenseits der Linguistik. Mit Blick auf die historische Untersuchung von "verletzten Körpern" sind nach Matter zwei Aspekte bedeutsam: Erstens kann die körperliche Erfahrung des Schmerzes nicht unmittelbar verständlich gemacht werden, sondern muss über Sprache vermittelt und in der historischen Analyse über den Text rekonstruiert werden.

Zweitens - und darauf wird in der Untersuchung besonderer Wert gelegt - besteht gerade bei dieser Erfahrung die Schwierigkeit, dass Schmerz nur bedingt objektiviert und in Sprache übersetzt werden kann. Diesem Spannungsverhältnis wird in der Untersuchung Rechnung getragen, wenn gefragt wird, wie die Betroffenen über Schmerz und Gewalt sprachen und inwiefern es ihnen gelang, dem Gericht die Schmerzerfahrung überzeugend zu vermitteln. Bedeutsam ist aber auch der breitere "Erfahrungskontext", der im Sinne von übergeordneten Diskursen verstanden werden kann: Zum einen wird dieser Kontext im gesellschaftlichen Hintergrund Mitte der 1940er-Jahre gesehen, als die "Stärkung der Familie" in der Kriegs- und Krisenzeit Teil eines schweizerischen Integrationsprozesses war, ein Umstand, der sich - wie Matter aufzeigt - ebenfalls auf das Rechtsverständnis und die Rechtspraxis auswirken konnte. Des Weiteren werden die "Erfahrungswirklichkeiten" des "Frau-" und "Mannseins" berücksichtigt. Diese werden als Kategorien verstanden, die das Wahrnehmen, Erfahren und Denken von historischen Subjekten strukturieren. Männer und Frauen wandten gegen ihre Partner beziehungsweise Partnerinnen nicht nur in unterschiedlichem Maß Gewalt an. Gewalt diente, wie Matter aufzeigt, auch der Konstruktion von geschlechtsspezifischen Rollenbildern, wobei nicht zuletzt geschlechtsspezifisch festgeschrieben wurde, was als abweichendes Verhalten definiert und im Zusammenhang der Ehescheidung juristisch verfolgt wurde. Doch auch das Handeln der Richter (in den untersuchten Fällen handelte es sich ausschließlich um Männer) muss im Zusammenhang mit deren Wahrnehmungs- und Erfahrungskontext betrachtet werden. Dieser bestand im Gegensatz zu den Prozessierenden nicht nur im gesellschaftlichen und geschlechtsspezifischen Hintergrund, sondern was die richterliche Entscheidungsfindung betrifft, auch in der Rechtstradition und -praxis. Matter verweist hier auf die unterschiedlichen "Lebenswelten" von Richtern und von weiblichen Gewaltopfern in der Ehe, wobei sie auf der theoretischen Ebene versucht, das Konzept der "Sprachspiele" nach Wittgenstein für die Geschichtswissenschaften fruchtbar zu machen. Im wesentlichen zielen diese Ausführungen darauf ab, mögliche Verständigungsschwierigkeiten als einen von mehreren Erklärungsfaktoren heranzuziehen, um die Frage zu klären, warum das Luzerner Gericht nur in ganz wenigen Fällen eine Ehe auf Grund des "Misshandlungsartikels" schied. Während sich dieser Ansatz eher auf der hypothetischen Ebene bewegt und zu weiteren Diskussionen anregen dürfte, steht das übrige theoretisch-methodische Vorgehen in klarem Bezug zur gewählten Quellenbasis und fördert eine Vielzahl an fundierten Erkenntnissen zu Tage.

Sonja Matter zeigt in ihrer Arbeit auf beeindruckende Weise, wie von Gewalt geprägte eheliche Beziehungen in den 1940er-Jahren aussehen konnten. Die Untersuchung vermittelt nicht nur einen Eindruck von den zum Teil gravierenden Verletzungen, welche die - zumeist weiblichen - Opfer erlitten hatten, sondern verweist auch auf die sozialen Funktionen, welche die Gewaltanwendungen in einer Ehe einnehmen konnten. Gewalt nahm, wie Matter zeigt, in vielen der untersuchten Beziehungen eine zentrale Funktion bei der Aushandlung von Machtpositionen ein. Dabei lässt sich ein klarer Bezug zu den gesellschaftlichen Vorstellungen der Zeit feststellen: Stellten Frauen die ihnen gemäss eines geschlechterhierarchischen Eheverständnisses zugewiesene untergeordnete Rolle (scheinbar) in Frage, reagierten ihre Partner oftmals mit Gewalt. Dies konnte beispielsweise der Fall sein, wenn die Frau - entgegen dem von allen Schichten getragenen Idealbild des männlichen Alleinernährers - ein eigenes Einkommen erwirtschaftete oder aber durch kommunikative Kompetenz die männliche Machtposition zu untergraben drohte. Die männliche Vormachtstellung war rechtlich im Zivilgesetzbuch verankert und wie Matter aufzeigt, scheinen die Luzerner Amtsrichter "leichtere" Formen von Gewaltanwendung als Mittel zur Erhaltung der ehelichen Machtverhältnisse toleriert zu haben - zumindest sanktionierten sie diese nicht, indem sie einer Scheidung auf Grund "schwerer Misshandlung" stattgegeben hätten. Von Bedeutung scheint diesbezüglich auch die ideologische Vorstellung eines von der öffentlichen Sphäre getrennten Privatbereichs zu sein, in dem die Familie als "Ort der Geborgenheit und des Friedens" fungierte und vor staatlicher Intervention geschützt sein sollte. In der Rechtspraxis wurde in erster Linie versucht, eine "gütliche Einigung" zwischen den Eheleuten zu erzielen und auch die Polizei, die zu Gewaltsituationen hinzugezogen wurde, griff eher vermittelnd ein. War ein gewaltbereiter Ehemann den Behörden nicht schon in außerehelichen Angelegenheiten negativ aufgefallen, musste sich die Ehefrau auf ein soziales Netzwerk verlassen können oder zusätzliche Gründe für eine Scheidung vorbringen, um sich aus einer Gewaltbeziehung befreien zu können. Wie die Untersuchung zeigt, führten andere Scheidungsgründe weitaus häufiger zu einer Trennung oder Scheidung. Dabei ist zu beachten, dass das Gericht nicht zuletzt auf der Grundlage der bestehenden Rechtstradition urteilte. In seiner Interpretation der "schweren Misshandlung", die im Gesetzestext unpräzise definiert war, folgte es zu weiten Teilen sowohl den früheren Bundesgerichtsentscheiden als auch der Rechtslehre. Die Interpretation durch die Rechtslehre veränderte sich im Verlauf der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wie Matter am Beispiel August Eggers - dem damaligen Experten in Familien- und Eherechtsfragen - aufzeigt. Es setzte sich eine Norm durch, wonach Konflikte gewaltfrei zu lösen waren, allerdings war sich die Rechtslehre lange uneins darüber, ob diese Norm grundsätzlichen Charakter haben sollte oder vielmehr schichtspezifisch betrachtet werden müsste. Nicht alle Rechtswissenschaftler vollzogen den Meinungswandel Eggers und so konnte sich bis in die 1950er-Jahre vereinzelt auch die Ansicht halten, dass Gewalt in den unteren sozialen Schichten (für Männer) ein "normales" Interaktionsmittel sei, von Frauen der Unterschicht gewissermaßen selbstverständlich ertragen werde und deshalb im Gegensatz zu den oberen Schichten nicht sanktioniert werden müsse. Das Amtsgericht Luzern handelte hingegen entsprechend der aktuellen rechtswissenschaftlichen Mehrheitsmeinung und nahm keine nach Schichten unterscheidende Einschätzung von Gewalt vor. Allerdings folgte es der älteren juristischen Lehre dahingehend, dass es nur besonders massive Gewaltakte als hinreichenden Grund bewertete, um eine Ehe zu scheiden und urteilte faktisch nur in sehr wenigen Fälle im Sinne der Klage auf "schwere Misshandlung". Die Interpretation der erlebten ehelichen Gewalt durch die Betroffenen konnte sich dagegen erheblich von der juristischen Sichtweise unterscheiden. Unabhängig davon, welcher sozialen Schicht sie angehörten, bewerteten die Klägerinnen Gewaltformen wie Schläge oder Tritte im Gegensatz zu den Richtern nicht als "Rohheiten". Für sie überschritten solche Gewaltakte die Grenze des "Normalen" und stellten eine klare Verletzung ihrer körperlichen Integrität dar.

Die Publikation "Verletzte Körper" leistet einen wichtigen Beitrag für das Verständnis von ehelicher Gewalt aus der historischen Perspektive. Sie zeigt einerseits, dass die Funktionen von Gewalt im Zusammenhang mit jeweils vorherrschenden gesellschaftlichen Vorstellungen von Ehe, Partnerschaft und den bestehenden Geschlechterverhältnissen betrachtet werden müssen. Andererseits machen die Ergebnisse deutlich, dass die Verhandlung von ehelicher Gewalt vor Gericht nicht losgelöst von bestehenden Rechtstraditionen untersucht werden kann, will man zu plausiblen Erklärungen für eine jeweils aktuelle Rechtspraxis gelangen. Mit ihrer Arbeit zu ehelicher Gewalt in den 1940er-Jahren erweitert Sonja Matter den zeitlichen Rahmen der Erforschung dieses Sachverhalts in der Geschichtswissenschaft und bietet einen neuen Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen dieser Art.

Marianne Fraefel (Bern/Berlin)

aus: Traverse
Zeitschrift für Geschichte, Seiten 178-182


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