Ulrike Waldmann-Fischer


Flucht im Tau

Abstract / Rezension


Aus dem Vorwort

Ich wuchs in einem aufgeklärten Elternhaus auf.
Angeregt durch familiäre Vorbilder interessierten mich vor allem die französischen Poeten, Philosophen und ihre Vorläufer in der Antike, die Stoiker ... oder Logiker.
Ein Stipendium in Japan vertiefte meine humanwissenschaftlichen Kenntnisse im neurophysiologischen, linguistischen, historischen und ethnopsychologischen Bereich. Dabei sprach mich die altchinesische Philosophie als Mutterboden des Z e n besonders an. Substanz und Bedeutung der Sprache und ihr Einfluss auf die Denk- und auch Lebensart wurden mir in meinem zweijährigen Japanaufenthalt zum Greifen nahe vor Augen geführt.
Als ärztliche Psychotherapeutin wieder in Europa lernte ich das Wort als wichtigstes klarifizierendes und integrierendes Medium und Re-medium schätzen. Das Wort ist in orientalischen wie in westlichen Sprachräumen intellektueller und psychischer Körper in Einem ein motorisch, silbenrhythmisch, klanglich, emotional, bildlich-metaphorische, syntaktisch kraftvoller Spannungsbogen.
Selbst Atom- und Astrophysiker bezeugen mir oft genug ihre Ansicht, dass der Clou des Alls nicht die Materie und das Atom per se sind, sondern die in ihr schlummernde Information, das Logos und die Logistik der Kräfte. Metaphorisch könnten wir Logos auch Schöpfungswort nennen.
Worte bewegen. Dieser biologisch-sinnlichen ebenso metaphysischen Eigenschaft der Sprache verdanken wir unser Überleben als Savannenflüchtlinge in den Wechselfallen der menschlichen Schicksale. Sie macht uns aufrecht, legt Worte in den Mund und gibt uns Strategien an die Hand, die uns in der Gruppe stärken und schützen. Nur Kommunikation verweigernde, nationalistisch eingeengte Kulturgruppen sind entfremdet, isoliert und schutzlos.
Die technokratische Dominanz in unserer heutigen Welt geht mehr vom Machen und vom Aus- Ab- und Besitzen aus. Die Besitzgesellschaft hat den Wortsinn des Ver-stehens und Standhaltens konkretistisch entwertet. Besonders sinnfällig sehen wir dies in unseren Kinderstuben, die von Elektronik und Sportgeräten starren. Allzuselten ist ein Buch im Besitz. Für aktive Phantasien und sprachliche Vielfalt der Kinder bleibt wenig Spi e laum und Begriff von Zeit ganz zu schweigen. Für die Erzieher und Eltern sieht es oft genauso sprach- und hilflos aus. Dabei könnten Poesie und solidarische Kreativität die Sozialisation wesentlich stützen, was unsere Vorväter viel bewusster vorlebten als wir. Märchenerzählende Großeltern oder Tanten werden heute oft als ?spleenig? oder rückständig belächelt und fehlen oft ganz.
Meines Erachtens ist dieser dritte Raum zwischen Elternhaus und Institutionen ein wichtiger Zwischenraum, der Identität bei raschem Informationswertzerfall spendet. Obendrein fördert Interesse neurophysiologisch das Vernetzen des kindlichen Sprachzentrums und macht weniger anfällig für jegliche Art von I S M E N. Es kann sich durch Zuspruch, Antwort und Verantwortung in der Sprachgruppe länger entwickeln und sichert das Überleben.
Indem wir uns im frühen Morgen der Menschheit auf der Flucht Im Tau gegenseitig zuriefen und informierten, hatten wir die Füße fester auf dem Boden der Tatsachen und Kopf und Hände frei für Be-deutsames, Begreifbares, Handeln, Durchstehen, Verstehen und Verständnis und das nötige Durch-Stehvermögen.
Im Hinblick auf unsere Herkunft habe ich das Buch 'Flucht im Tau' genannt. Dabei gefiel mir der Gleichklang mit dem chinesischen Tao. Das heißt Wort und Weg in einem; solche gegenseitig wegbereitende Wahrnehmung schafft menschliche Beziehung, und Zugang zu uns selbst und zur Menschheitsgeschichte. Sie öffnet das Herz, nicht nur metaphorisch, sondern auch psychosomatisch für einander. In der Metapher der Einsicht sehe ich das Ziel, uns selbst ernsthaft in Augenschein zu nehmen. Solcherlei Gespräche wurden lange vor der Psychoanalyse z.B. in den Upanishaden, in Delphi oder Ägypten oder andernorts geführt.
Unserer menschlichen Natur schmeckt Hören und Gehör finden, Sehen und Gesehenwerden, Sprechen und Benannt werden besonders gut und steht uns zur Nase. Diese muss beim aufrechten Gang nicht mehr am Boden entlang schnüffeln. Dafür stecken wir sie gerne in ein Buch. Sprachliches Verständnis ist eine intensive Form der Zärtlichkeit und Liebe. Sie hellt unser Gemüt auf. Nicht umsonst betrachten wir wortlose Lebensformen als dunkel. Menschen, deren vertraute Worte wir im Ohr behalten, im Munde führen oder auf der Zunge zergehen lassen, oder zu Herzen nehmen, lesen, empfinden wir als nah. Denn Sprache ist uns schon vor der Geburt vertraut. Kommt sie uns nicht schon im Mutterschoß als Muttersprache zu Ohren und berührt uns mit ihrem Tonfall und Rhythmus. Diesen ursprünglichen Rhythmus auszugraben, war mein Anliegen in diesem Buch. Ähnlich einem Mutterschoß kann ein Buch wirken. Du Leser, lässt Dich ein, vertiefst Dich und lässt wieder los. Nimm es zur Brust und lass Dich schweigend ansprechen. Mit neugierigen Augen kommen wir wieder zur Welt und können innehalten. Das wäre aus meiner Sicht ein schöner lnhalt und ein sinnvolles Ziel dieses Gedichtbandes.

Ulrike Waldmann-Fischer
Bad Wildungen, im Dezember 2004


Copyright © 2004 by Verlag Traugott Bautz