Roland Stark

Die Dehmels und das Kinderbuch

bibliothemata, Band 21

Rezension


Der Plural im Titel des vorliegenden Buchs von Roland Stark ist Programm: Während viele Darstellungen, die sich mit dem Fitzebutze und anderen kinderliterarischen Werken des Autorenpaars beschäftigen, einseitig auf den - bis heute weitaus bekannteren - Richard Dehmel fixiert bleiben, möchte er in einer sorgsamen Rekonstruktion aller vorhandenen Quellen das höchst spannungsvolle Geflecht der Kooperation von Paula und Richard Dehmel, ihre Zusammenarbeit mit den Illustratoren sowie ihre konfliktreiche Beziehung zu ihren Verlegern und Kritikern beleuchten. Nicht die individuelle Persönlichkeit eines der Beteiligten steht daher im Zentrum seiner Untersuchung, sondern ihre Interaktion, ihr Kräfteverhältnis und wechselseitiges Kräftemessen sowie ihre - von Seiten des Mannes in der Regel ausgesprochen hierarchisch und autoritär geführte - Kommunikation. Insbesondere Paula Dehmel, die lange Zeit zu Unrecht im Schatten ihres Mannes gestanden hat, und ihre Rolle bei der Erneuerung der Kinderliteratur im frühen zwanzigsten Jahrhundert erscheinen auf diese Weise in einem ganz neuen Licht.

Roland Stark, der bereits durch den verdienstvollen Katalog zum Fitzebutze (Marbach 2000) sowie durch seine Studie zur Geschichte des Schaffstein-Verlags (Frankfurt a.M. 2003) als Experte auf diesem Gebiet ausgewiesen ist, nähert sich seinem Thema mit der Passion des Sammlers, Historikers und Philologen. Der Schwerpunkt seiner Darstellung liegt daher auf einer ausführlichen Materialdokumentation, wobei die angeführten Dokumente - darin liegt ihr spezifischer Wert für die Forschung - in den meisten Fällen aus bislang unveröffentlichten Quellen geschöpft sind, die der Autor nut großem Engagement in Archiven und Bibliotheken oder bei Privatleuten aufgespürt hat. Die eigentliche Deutung der kinderliterarischen Texte tritt im Vergleich damit in den Hintergrund; erst am Schluss ist im 10. Kapitel (158ff) in einem kürzeren Exkurs davon die Rede. Hier nimmt der Autor, anlässlich seiner Überlegungen zur Wirkungsgeschichte der Dehmels, auch die explizite Auseinandersetzung mit anderen kinderliterarischen Forschungspositionen (u.a. von Gelbrich, Wilkending, Ewers) auf.

Der Aufbau des Buchs folgt im Wesentlichen der Werkchronologie. Nach einer Vorrede, in welcher Stark seine Prämisse erläutert, dass Paula Dehmel das eigentliche interne Wirkungszentrum der gesamten Personengruppe" (8) gewesen sei, behandelt er zunächst die kinderliterarischen Anfänge der Dehmels. Schon dabei sei die eigentliche Initiative von der Frau ausgegangen, was allerdings dadurch verdeckt werde, dass ihr (damaliger) Ehemann sich nach außen stets als dominante und patriarchalische Autorität inszeniert habe. Richard Dehmel erscheint hier - und in vielen anderen Kapiteln des Buches - als eine höchst widersprüchliche und gespaltene Persönlichkeit, bei der sich emanzipatorische Vorstellungen über den Umsturz der Bürgermoral mit einem ausgeprägten Machtstreben und einem Durchsetzungswillen verbinden, dem zur Erreichung seiner Ziele beinahe jedes Mittel recht ist. Das Verhalten, das er speziell seiner Frau gegenüber, aber auch im Umgang mit Künstlern wie Ernst Kreidolf oder mit seinen Verlegern an den Tag legt, ist nicht selten von einer Anmaßung, Arroganz und Selbstüberschätzung bestimmt, die Stark völlig zu Recht als männliches Autoritätsgebaren attackiert. Dass es gerade diese Züge sind, die eine Zusammenarbeit mit Richard Dehmel für seine Ehefrau und alle anderen Mitwirkenden immer wieder zur Qual machten, zeigt die ausführliche Rekonstruktion der Entstehung des Fitzebutze (1900), den Stark unter Rekurs auf James Krüss zutreffend als "Manifest des emanzipierten Kindes" (10) charakterisiert. In Wahrheit verlief die Entstehung dieses kinderliterarischen Hauptwerks, mit dem Dehmel den ziemlich ambitiösen Plan verfolgte, "den ,Struwwelpeter' aus dem Feld [zu] schlagen" (41), nämlich keineswegs so glatt, wie es die Beteiligten im Nachhinein darzustellen versuchten. Zu welchen Verwicklungen, Komplikationen und Konflikten es dabei tatsächlich kam, wird anhand der bei Stark abgedruckten Dokumente erstmals bis ins Detail greifbar (Kap. II). Wichtig ist auch der Hinweis, dass Dehmel die tatsächliche Wirkung des Buches auf Kinder von dem Reformpädagogen William Lottig noch vor der Publikation empirisch erproben ließ; die aufschlussreichen Dokumente dieses Unterrichtsversuchs sind im Anhang abgedruckt (165-183).

Rumpumpel, 1903 erschienen, ist das erste eigenständige Buch Paula Dehmels und ein Dokument ihrer beginnenden Ablösung von ihrem Ehemann (Kap. III), der auf das Buch mit der für ihn typischen Mischung von Unverständnis und Konzilianz reagierte. Wie es Paula Dehmel in einem widersprüchlichen Prozess gelungen ist, gerade in der Auseinandersetzung mit Richard Dehmel allmählich zu größerem Selbstbewusstsein zu gelangen, lässt sich anhand ihres Briefwechsels bei der gemeinsamen Arbeit an der Anthologie Buntscheck studieren (Kap. IV). Erstmals weist Paula Dehmel hier die Einmischungsversuche ihres männlichen Mitherausgebers entschieden zurück. In ihrem Pro und Contra - dem Schwanken zwischen Anpassung und Aufbegehren auf Seiten der Frau, der Proklamation neuer Moralvorstellungen und dem gleichzeitigen Festhalten an den etablierten Geschlechterrollen auf Seiten des Mannes - sind diese Briefe ein interessantes Zeugnis für die spezifischen Konflikte einer Künstlerehe und für das Dilemma weiblicher Autorschaft um 1900. Dieser Aspekt, der die Konfliktsituation der schreibenden Frau als Modellfall künstlerischer Emanzipationsversuche im frühen zwanzigsten Jahrhundert erscheinen lässt, wird hei Stark leider nicht weiter verfolgt. Unter Berücksichtigung der breiten Forschungsliteratur zu dieser Thematik ließen sich hier vermutlich noch vertiefende Einsichten gewinnen.

Die folgenden Kapitel behandeln die weiteren Aktivitäten Paula Dehmels bis zu ihrem Tod 1918 und die Nachlasseditionen, die zum Teil von ihrem früheren Mann betreut worden sind. Ein Blick auf die Wirkungsgeschichte, bei der einmal mehr die Vernachlässigung der KJL durch die Germanistik zu beklagen ist, ein Verzeichnis der verwendeten Quellen, ein Materialanhang, in dem neben der schon erwähnten Abhandlung von William Lottig auch die Grabrede von Franz Oppenheimer auf Paula Dehmel (190-193) zu finden ist, sowie ein nützliches Namensregister runden die Untersuchung ab. Das abschließende Urteil über Richard Dehmel fällt äußerst kritisch aus: trotz seiner Verdienste um die Kinderliteratur sei dieser im Kern ein "bürgerlich verkrusteter" und "egomaner Scheinrevolutionär" (163) geblieben. Nach der Lektüre der bei Stark dokumentierten Brief- und Aufzeichnungen aus seinem Umkreis kann man sich diesem harten Urteil leider nur anschließen.

Roland Starks Studie erlaubt durch die verdienstvolle Erschließung unbekannter Quellen, die man nicht voreilig als ,positivistisch' abqualifizieren sollte, einen neuen, sehr viel präziseren Blick auf die Persönlichkeit und das literarische Schaffen der beiden ,Dehmels'. Sein Buch demonstriert, wie sie über viele Jahre in wechselhaften Konstellationen teils miteinander, teils gegeneinander gearbeitet haben, und schärft damit zugleich unsere Sicht auf die Geschichte der Kinderliteratur und ihres Verlagswesens um 1900. Die Rehabilitation von Paula Dehmel, die der Verfasser sich vorgenommen hat, ist ihm überzeugend gelungen. Allerdings bleibt seine Untersuchung primär auf die biographischen und historischen Fakten, auf die kommunikative Interaktion des Dichter(ehe)paares und die Beziehungen zu seinen Verlegern fixiert. Eine Beschäftigung mit den Texten und dem sie tragenden Literaturkonzept findet nur ansatzweise statt. Kontexte wie etwa das Verhältnis zur Reformpädagogik (114f) oder der zeitgenössische Diskurs um die weibliche Autorschaft werden berührt, bedürfen aber noch einer weitergehenden Klärung. Durch seine Quellenstudien, die mit einer ganzen Reihe bislang unbekannter Informationen aufwarten, liefert Starks Untersuchung Anregungen zu künftigen Forschungsarbeiten dieser Art und gibt ihnen zudem einen soliden Materialfundus an die Hand.

Heinrich Kaulen

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