Herwarth v. Schade

Zu Gottes Lob in Hamburgs Kirchen

Eine Hamburgische Gesangbuchgeschichte

Rezension


Die Einführung eines neuen Evangelischen Gesangbuches (EG) in Deutschland (ab 1993) nimmt der Vf. als Anlaß für die Frage, woraus denn in einem bestimmten Territorium - nämlich der Stadt Hamburg - zuvor gesungen wurde.
Das evangelische Singen wurde nicht in Hamburg erfunden, sondern hat seinen Ursprung in der Wittenberger Reformation, festzumachen am besten an dem berühmten Brief Luthers an den sächsischen Kanzleibeamten Spalatin vom Ende des Jahres 1523, in dem der Reformator diesen um geistliche Lieder ersucht, "damit das Wort Gottes schon durch den Gesang bei den Leuten bleibt" (S. 6). Folgerichtig beginnt der Vf. seine Abhandlung mit Luthers Beitrag zum Gemeindegesang, nennt die ersten evangelischen Gesangbücher und zitiert länger die wichtigsten Gesangbuchvorreden Luthers. Es schließt sich an eine kurze Darstellung der wohl zunächst in Hamburg benutzten Gesangbücher (z. B. dasjenige Joachim Slüters, Rostock 1525). In fünf Abschnitten, in denen jeweils ein Jahrhundert Gesangbuchgeschichte behandelt wird, führt der Vf. nun die einzelnen in Hamburg gedruckten geistlichen Liederbücher vor: beginnend mit Wickradts Enchiridion von 1558, endend mit dem Evangelischen Gesangbuch (Ausgabe Nordelbien 1994). In einem tabellarischen Anhang finden sich die Inhaltsverzeichnisse der wichtigsten Gesangbücher, z. T. mit Kennzeichnung der noch im EG befindlichen Lieder. Ausschmückung erfährt das Buch durch den Abdruck einiger Titelblätter. Positiv hervorgehoben sei auch das Personenverzeichnis mit Lebensdaten. Zu den Gesangbüchern selbst werden jeweils sehr unterschiedliche Informationen geliefert, z. B. über die Verfasser, die Drucker, den Inhalt, die Veränderungen bei den Liedtexten, über die Diskussionen bei der Planung eines neuen Gesangbuches oder über Bezüge ins 20. Jahrhundert.

Bei all dem bleibt der Vf. seinem eingangs gewählten Ansatz treu, das "Früher" des hamburgischen Kirchengesangs mit dem "Heute" des EG zu korrelieren und zu kontrastieren. Ob er dabei den alten Gesangbüchern immer gerecht wird und das theologische Profil des je eigenen Liedgutes hinreichend herausarbeitet, müßte im Einzelfall untersucht werden.

Die hymnologische Forschungssituation ist ja dadurch gekennzeichnet, daß einerseits das Quellenmaterial in vielen Bereichen überhaupt erst erhoben werden muß und daß anderseits dieses dann vor allen Dingen im jeweiligen Kontext zu interpretieren ist. Forschungen wie das hier vorgestellte Buch können da sehr hilfreich sein. Allerdings entsteht der Eindruck, daß die begrenzte Fragestellung des Vfs. (Welche der damaligen Lieder stehen heute noch im EG?) den Blick auf das eigentlich hymnologisch Interessante verstellt: Warum entstand ein Lied zu einer bestimmten Zeit und welche theologische Aussage enthält es? Und warum wurde eine solche Dichtung dann zu bestimmten Zeiten in ein Gesangbuch aufgenommen oder überarbeitet oder gar ganz gestrichen? Auf diese Fragen geben die vielen interessanten Beobachtungen keine Antwort; sie bleiben farbige Mosaiksteinchen, ergeben aber kein Gesamtbild.

Angefügt seien noch ein paar einzelne Hinweise:
- Es wird nicht deutlich, ob mit den genannten Gesangbüchern bereits alle je in Hamburg erschienenen oder nur die aufgeführt sind, die sich zufällig noch daselbst in Bibliotheken und Archiven befinden.
- Man vermißt gelegentlich eine Auseinandersetzung mit der einschlägigen Literatur: Zur klassischen Formel, nur "Pastor und Kantor" hätten in früheren Zeiten ein Gesangbuch besessen, hat schon K. Ameln (JLH 27, 1983) andere Überlegungen angestellt. Im Literaturverzeichnis fällt dem Kenner sofort das Fehlen der Schriften von M. Jenny auf, dessen Neuausgabe der Luther-Lieder in S. 13, Anm. 20, doch arg kurz abgehandelt wird.
- Manchmal hätte man sich den einen oder anderen Beleg gewünscht: Wo genau begegnet erstmals der Begriff "hymnologia" (S. 34)? Woher weiß der Vf., daß man alte Gesangbücher (S. 1) und Liedblattdrucke "nicht lange aufbewahrte" (S. 93), gar mit dem Zusatz, man habe sie weggeworfen, weil es "ja bald ein neues Gesangbuch" gab (S. 1). Zählten sie in vergangenen Zeiten nicht vielleicht zu den wenigen und damit auch kostbaren Büchern des einfachen Mannes überhaupt?
- Im ganzen hätte man sich über ein wenig mehr Sorgfalt bei den Einzelheiten gefreut. Dazu zählt z. B. die einheitliche Handhabung von Kapitel-Überschriften, das Kenntlichmachen von Zitaten (Überschrift Kap. 4!) und die eindeutige Entscheidung, ob das Erscheinungsjahr von EKG und EG sich nun auf die Stamm-Ausgabe oder die nordelbische Variante beziehen soll. Schon als kurios muß man wohl das Verfahren bezeichnen, eine Gesangbuchvorrede Luthers dergestalt zu zitieren, daß man in der Einführung dazu die Sammeltätigkeit Ph. Wackemagels und seine Edition der Luthertexte hervorhebt - dann aber aus der Weimarer Ausgabe der Luther-Werke zitiert (S. 17f.)!

Wer wird dieses Buch nun mit Gewinn lesen? Ganz sicher jeder, der - wie offensichtlich der Vf. selbst - ein Liebhaber des Sujets "Gesangbuch" ist und sich einen Überblick über 450 Jahre evangelischen Kirchengesang in Hamburg verschaffen möchte. Für den Hymnologen mag es Anregung sein, - ausgehend von der Fülle des dargebotenen Materials und den vielen Einzelbeobachtungen - an der einen oder anderen Stelle nun selbst tiefergehende Forschungen im Bereich der Hamburgischen Gesangbücher aufzunehmen.

Heike Löhr


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