Peter Gerdsen

Natur- und Geisteswissenschaft im Kontext des Interkulturellen

Interkulturelle Bibliothek, Band 32

Rezension


"Wir brauchen eine neue auswärtige Kulturpolitik: Statt fremde Gesellschaften zu belehren, müssen wir bereit sein, von ihnen zu lernen", verlangt der Soziologe Wolf Lepenies und spricht über das "Ende der intellektuellen Ideologie der Überheblichkeit", die von vielen "europäischen Denkschulen" geteilt wird.

Dieser Gedanke Lepenies' läßt sich auf das Verhältnis zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften beziehen, die sich seit ihrer Entstehung als zwei völlig unterschiedliche ‚Kulturen' gegenüberstehen. Peter Gerdsen, emeritierter Professor an der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Hamburg, geht einen Schritt weiter und untersucht Natur- und Geisteswissenschaft im Kontext des Interkulturellen und stellt zwischen ihnen nicht nur "verblüffende Gemeinsamkeiten", sondern auch "erhellende Unterschiede" fest.

Gerdsen stellt die Frage, wie wir "die Natur- und Geisteswissenschaften, trotz ihrer unterschiedlichen Charaktere, für einen polyphonen Dialog unterschiedlicher Wissenschaftstraditionen inner- und außerhalb Europas fruchtbar machen können." Er unterzieht die Ansätze von Lepenies, Charles Percy Snow und John Brockman einer kritischen Diagnose. Snow und Lepenies intendieren dazu, zwischen der literarisch- humanistischen und der naturwissenschaftlich-technischen Disziplin als "zwei Kulturen" durch eine "dritte Kultur" zu vermitteln. Brockrnan geht einen anderen Weg und interpretiert den Begriff der "dritten Kultur" um. Er ist der Auffassung, daß die literarischen Intellektuellen auch heute nicht mit den Naturwissenschaftlern reden; aber Naturwissenschaftler wenden sich unmittelbar an das allgemeine Publikum: "Die traditionellen Medien der Intellektuellen spielen ein senkrechtes Spiel: Journalisten schrieben von unten nach oben, und Professoren schrieben von oben nach unten. Die Vertreter der dritten Kultur versuchen heute, den Vermittler zu vermeiden, und gehen daran, ihre tiefsten Gedanken so auszudrücken, daß sie jeden intelligenten Leser zugänglich sind."

Gerdsen stellt eine "vierte Kultur" vor, die er als eine "interkulturelle" bezeichnet, und erweitert damit diese Ansätze in theoretischer und praktischer Hinsicht. Der Ansatz der Interkulturalität, einer grundlegenden Neuorientierung, die auf gegenseitige Dialogfähigkeit und Verständigungsbereitschaft zielt, wird zu einem zentralen Thema der Untersuchung Gerdsens. Der eigentliche Unterschied zu den drei erwähnten Ansätzen besteht darin, daß dieser "dialogisch-arialogisch" ausgerichtet ist. Damit will der Verfasser "die Kluft des "Nicht-verstehens" zwischen Natur- und Geisteswissenschaften" schließen.

Gerdsen erweist sich in mehrfacher Hinsicht als prädestiniert für eine solche Aufgabe, weil er mit mathematisch orientierten Natur- und Ingenieurwissenschaften vertraut ist - er vertrat die Gebiete "Theoretische Nachrichtentechnik" und "Kommunikationssysteme" - und sich ferner seit Jahrzehnten mit Themenfeldern der Philosophie, Theologie und Kulturwissenschaften befaßt.

Bezüglich der europäischen Wissenschaftskonzeptionen bzw. -revolutionen ist der Autor mit Elmar Holenstein übereinstimmend der Ansicht, daß heute etwas in die indischen, chinesischen, iranisch-islamischen usw. Erdteile zurückkehrt, "was in früheren Zeiten und in früheren Fassungen aus ihnen übernommen worden ist." Bedingt durch die Kurze der Darstellung beschränkt sich Gerdsen auf europäisch-wesfliche Wissenschaftskonzeptionen, weist aber auf natur- und geisteswissenschaftiche Leistungen, Errungenschaften und Interdependenzen anderer Kulturregionen, allen voran der indischen, der chinesischen und der islamischen Kultur hin. Diese wurden bislang nicht in einem adäquaten wissenschaftshistoriographischen Kontext gebührend gewürdigt.

Im Kulturimperialismus der sogenannten "westlichen Welt" sieht der Autor gewichtige Gründe, warum die Weltgesellschaft so konfliktreich geworden ist. Er stellt die Frage, wie Gefahren zu minimieren oder gar zu überwinden sind. Hier verweist er einerseits auf die Scientific Community als ein weltumspannendes Netzwerk von Naturwissenschaftlern, die Menschen völker- und kulturenübergreifend verbindet und andererseits auf die Ingenieurwissenschaften, die Wege aufzeigen, Hunger und Not in der Weit zu bekämpfen.

Die Studie umfaßt drei Kapitel.

Im ersten Kapitel "Leitgedanken der Interkulturalität" werden zunächst aus phänomenologischer Perspektive die Natur- und Geisteswissenschaften in ihrer gegenwärtigen Situation vor dem Hintergrund ihrer historischen Entwicklung betrachtet. In einem weiteren Schritt werden interkulturelle Denkdimensionen dargelegt. Diese erweisen sich als eine gesamtmenschheitliche Grundkonstante, wobei nicht von Verstand und Vernunft ausgegangen wird, weil diese bereits Produkte des Denkens sind, sondern vom Denken selbst, die im Kontext des Interkulturellen unterschiedliche Formationen und Begründungsweisen kennen.

Im zweiten Kapitel "Interkulturelle Bedeutung von Wissenschaft" werden zunächst die Wissenschaften allgemein daraufhin untersucht, inwieweit sie Völker und Kulturen zusammenführen oder auch voneinander trennen, um dann besonders auf die Natur- und die Geisteswissenschaften einzugehen. Besonders erhellend ist dabei der Abschnitt, der die Naturwissenschaften im Lichte der griechischen Mythologie darstellt, denn hier werden die Ingenieurwissenschaften in ihrer Bedeutung für die ganze Menschheit thematisiert. Im dritten Kapitel "Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaften" wird herausgearbeitet, daß der Graben des Nichtverstehens zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften seine Ursache in einer Blickverengung hat; denn beide sind in komplementärer Weise aufeinander bezogen und Teile eines Wissenschaftsganzen.

Die interkulturelle Perspektive des Buches zieht sich auf zweifache Weise wie ein roter Faden durch alle Kapitel und Gedankengänge hindurch; denn im Vordergrund der Darstellung stehen zwar die interkulturellen Ausstrahlungen der Natur- und Geisteswissenschaften, aber im Hintergrund aller Darlegungen wird immer wieder das menschheitlich Gemeinsame herausgearbeitet. Während von der Seite der Wissenschaft stets auf das Trennende und Unvereinbare der Kulturen und Religionen hingewiesen wird, verweist der Autor auf das Denken und seine Gesetzmäßigkeiten sowie auf die in der Freiheit und im Schöpfertum liegende Bestimmung des Menschen; denn die Grundmerkmale des Denkens und die Bestimmung des Menschen sind das Verbindende über Kulturen und Religionen hinweg.

Es ist bezeichnend, daß der Autor sein Buch mit einem Zitat aus Charlie Chaplins Inszenierung des "Großen Diktators" abschließt. Dieses Zitat weist darauf hin, das der Mensch in vielfacher Hinsicht großartige technologische Errungenschaften hervorgebracht hat, welche die Menschheit auf einer höheren Ebene der Naivität weiterbringen können. Die eigentliche Gefahr besteht darin, das der Mensch oft zum Sklaven dieser Errungenschaften wird, weil er sie nicht eigentlich beherrscht. Hinzu kommt die Macht, die sich zum Argument erhebt und alles diktieren will.

Insofern besteht ein großes Verdienst des Autors darin, die Errungenschaften der Geistes- und Naturwissenschaft im Kontext des Interkulturellen untersucht und für eine ‚vierte Kultur' plädiert zu haben, die durchaus in der Lage ist, historische Monologe auf der Ebene der Wissenschaftshistoriographie zu dialogisieren. Damit stellt das Buch im Grenzbereich zwischen Natur- und Geisteswissenschaft eine grundlegende Erweiterung der vorhandenen philosophischen Literatur dar.

Dieses facettenreiche Werk ist nicht nur philosophisch interessierten Lesern zu empfehlen, sondern auch allen, die sich bewußt sind, das ein tieferes Verstehen der Gegenwartsverhältnisse aufgrund einer Analyse der Vergangenheit möglich ist, denn trotz komplizierter Gedankengänge ist die Thematik in einer einfachen und präzisen Sprache dargestellt.

Hamid Reza Yousefi, Koblenz


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