Peter Gerdsen

Natur- und Geisteswissenschaft im Kontext des Interkulturellen

Interkulturelle Bibliothek, Band 32

Rezension


Angesichts der zentralen Rolle, welche die Sprache für die Philosophie spielt, kann es nicht verwundern, das Philosophie lange Zeit ein ziemlich ethnozentrisches - und vor allem eurozentrisches - Geschäft geblieben ist. "Philosophie" und "Europa" scheinen meist als notwendig zusammengehörend gedacht zu werden. Philosophiegeschichten, welche ihre verschiedenen Ursprunge in Indien, China, Japan, Griechenland, dem Islam, dem subsaharischen Afrika und dem präkolumbianischen Mexiko gleichwertig nebeneinanderstellen, scheinen ebenso die Ausnahme zu sein wie die Idee, dass es "die eine Weltphilosophie ... nur im Chor der vielen Stimmen spezifischer Philosophien" (246) gibt.

Genau diese Eingebundenheit von Philosophie in eine jeweils einzigartige Sprache und die Eingebundenheit jener wiederum in eine stets spezifische Kultur, die sich im Lauf der Zeit beständig verändert, ist der Ausgangspunkt für eine "interkulturelle Philosophie", die weder Kulturphilosophie noch Philosophie der Kulturen oder der Kulturbeziehungen sein will. Eine solche interkulturelle Philosophie möchte sich auch nicht an die Stelle empirischer Kulturanthropologie, Ethnologie, Soziologie oder interkultureller Kommunikationsforschung setzen, obwohl sie natürlich von deren Debatten profitiert und sich ständig auf sie beziehen muss.

Einer der vier Referenzautoren - neben Heinz Kimmerle, Franz Martin Wimmer und Raul Fornet-Betancourt -‚ die im Einführungsband der Interkulturellen Bibliothek als Hauptvertreter der interkulturellen Philosophie im deutschen Sprachraum vor gestellt werden (41-75), ist Ram Adhar Mall. Mall (geb. 1937 in Indien) ist Gründungspräsident der "Gesellschaft für Interkulturelle Philosophie"; er lebt und lehrt seit 1967 in Deutschland. Für ihn ist "interkulturelle Philosophie ... eine grundsätzlich neue Orientierung und entspringt der Einsicht in die Polymorphie der einen orthaft ortlosen philosophia perennis.

Der polyphone und polyloge Charakter der philosophia perennis trägt metonymische Züge. Die hier entworfene Theorie der interkulturellen Philosophie plädiert für eine überlappend universale, aber dennoch orthaft ortlose philosophia perennis und weist auf einen Paradigmenwechsel hin" (164 f).

Der in Wien lehrende Franz Martin Wimmer (geh. 1942), Präsident der "Wiener Gesellschaft für interkulturelle Philosophie", hat sich ausgiebig mit außereuropäischer Philosophie beschäftigt. Sein zentraler Begriff, mit dem er das Anliegen des ghanaischen Philosophen Kwasi Wiredu der "begrifflichen Entkolonisierung" aufnimmt, ist der des "Polylogs" im Sinn eines "Gesprächs unter vielen über einen Gegenstand"; damit verfolgt er die "Fortsetzung des Programms der Aufklärung mit anderen Mitteln, nicht mit dem Mittel einer voraussetzungslosen Wissenschaft, sondern durch einen Polylog der Traditionen".

Eine zweite, wesentlich kleinere Gruppe von Bänden behandelt unter der Rücksicht ihres Beitrags zur interkulturellen Reflexion bzw. zum interkulturellen Polylog weltweit präsente religiöse Lehren (Bibel, Buddhismus, Islam, Mystik) und ausdrücklich international-interkulturell angelegte Projekte und Strategien (Welt-Ethos-Projekt, explizit interkulturell ausgerichtete Religionswissenschaft, Psychologie und Pädagogik, die Forderung der Toleranz und der Menschenrechte). Interessant ist hier auch der Versuch von Peter Gerdsen, die "scientific community" als Beispiel kultur- und völkerübergreifender Verständigung" (IB 32, 2007,17) zu betrachten, wobei insbesondere auf ihre neuzeitliche Spaltung in Natur- und Geisteswissenschaften reflektiert wird. In einer dritten, nicht scharf von der vorigen abzutrennenden Gruppe geht es um eine Vielfalt von für die Analyse von Interkulturalität relevanten Themen und den sie zu fordern suchenden Positionen und Reflexionen.

Die kleinen, einfach aufgemachten und preiswerten blauen Bändchen (10 Euro) der Interkulturellen Bibliothek mit ihren 103 bis 150 Seiten pro Band sind ein enormer und faszinierender Steinbruch, aus dem man viel wertvolles Material gewinnen kann, und die sichtbar machen, welch wichtiger Beitrag von der philosophischen Analyse und Reflexion zu erwarten ist. Allerdings scheint die Balance zwischen allgemeiner Darstellung von Biographien und Werken und deren spezifisch interkultureller Problematisierung nicht immer ganz geglückt; manchmal wünschte man sich mehr ausdrückliche Weiterentwicklung der im Eröffnungsband dargelegten philosophischen Ideen und Konzepte, statt lediglich einfache Hinweise darauf. Auch kann es bei der großen Menge der in so kurzer Zeit erschienenen Titel nicht verwundern, das der eine oder andere Autor seinen Text nicht mehr eingehend überarbeiten konnte; einige ärgerliche Fehler und Ungereimtheiten sogar in Bezug auf Autorennamen und Überschriften hatten vermieden werden können.

Für weiter am jeweiligen Thema Interessierte konnte es hilfreich sein, die zitierten Quellen am Ende des Bandes zusammen aufzuführen und dort einen Abschnitt mit weiterführender Literatur anzufügen. Zu überlegen wäre auch, ob man nicht mittels eines Symposions oder einiger zusätzlicher Bände mit ausdrücklich vergleichenden Texten, für die interkulturelle Philosophie zentrale Themen angehen konnte wie etwa die Beziehungen zwischen Universalismus und Relativismus, Sprache und Denkstruktur, Gesellschaftsformation und Philosophie, Selbstheit-Fremdheit-Andersheit oder auch die spannungsreiche Wahrheitsfrage, das Problem von Übersetzbarkeit zwischen totaler Identität und völliger Differenz und ebenso noch mehr Probleme des praktischen Umgangs mit Kulturenvielfalt in verschiedenen Bereichen.

Stefan Krotz


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