Maja Soboleva

Russische Philosophie im Kontext der Interkulturalität

Interkulturelle Bibliothek, Band 125

Rezension


"Interkulturalität" und eine mit Ethnonym versehene "Philosophie", hier die "russische", - passt das zusammen? Beim ersten Stichwort mag man an Wirtschaftskommunikation denken, an interkulturelle Didaktik vielleicht, an den Abbau von Verständigungsschwierigkeiten und Missverständnissen im Zusammenleben der Kulturen, an Politik im weitesten Sinne - auf jeden Fall aber an Erfordernisse des Tages, während "Philosophie" eher die Abstraktion konnotiert, wohlmöglich Universales markiert und damit als ein für die Beschreibung konkreter kulturell bedingter Differenzphänomene nur wenig geeigneter "Methodenpool" erscheint. Dem lässt sich natürlich entgegen halten, dass es das "Label" "interkulturelle Philosophie" längst gibt (z. B. Mall 1995; Kimmerle 2002) - sogar eine seit 1992 eine Gesellschaft gleichen Namens (www.int-gip.de) - aber diese interkulturelle Philosophie verbindet sich gerade nicht mit nationalen wie sie überhaupt die Idee der nationalen Kultur einschließlich ihrer Produkte (z. B. der Philosophie) relativiert: "Eine reine eigene Kultur gibt es ebensowenig, wie es eine andere Kultur gibt" (Mall 1995, S. 1). Die Petersburg-Marburger Philosophiehistorikerin Maja Soboleva zeigt in ihrem kleinen, in der "Interkulturellen Bibliothek" des Nordhäuser Verlages "Traugott Bautz" erschienenen Bändchen gleichwohl, dass der Blick auf eine ethnisch-national begrenzte Entwicklung philosophischen Denkens nicht nur in den Kontext der Interkulturalität gestellt werden kann, wie der Titel besagt, sondern für diesen Kontext inhaltlich bereichernd ist. Das abgelegene Thema der "russischen Philosophie", dem durch die Arbeiten von Rainer Grübel in der Slavistik, von Boris Groys in der Kulturologie, Michael Hagemeister und Alexander Haardt in der Philosophie und Philosophiegeschichte, um nur einige zu nennen, in den letzten Jahren zwar wiederholt Aufmerksamkeit geschenkt worden ist, das aber immer noch, v. a. im Hochschulbetrieb, eher eine Marginalie darstellt, kann mit diesem Büchlein einem weiten Leserkreis bekannt und in seiner aktuellen Bedeutung verständlich gemacht werden. Als Einführung ins Thema dürfte es gerade auch für Studierende hilfreich sein.

Ein bedauerlicher formaler Mangel darf an dieser Stelle aber nicht verschwiegen werden. Gerade weil sich das Buch als Einführungslektüre eignet, ist der unverkennbare Wirrwarr in der Umschrift russischer Namen und Begriffe besonders störend: So wird Wjatscheslaw Iwanow transkribiert, aber Fedor Dostoewskij abgesehen vom "w" transliteriert, wohingegen Solowjew wieder ein ,j" erhält, dafür aber sein Vorname mit "v" beginnt: "Valdimir" - so wie bei Lev Gumilev (bei ihm dann wieder ohne ,j").

Warum lohnt es, sich der "russischen Philosophie" interkulturell anzunähern oder umgekehrt: Warum kann es interessant sein, sich für die Interkulturalitätsforschung der russischen Philosophie zu widmen? Verf. stellt einleitend verschiedene Zugangsweisen vor: "Entweder schreibt man eine Rezeptionsgeschichte und untersucht interkulturelle Grundlagen russischer Philosophie, oder man rekonstruiert russische interkulturelle Philosophie" (S. 9). Der erste Weg ist mit Arbeiten zu "Kant in Rußland", "Hegel in Rußland", "Nietzsche in Rußland" usw. schon vielfach "abgegangen" worden. Während auf ihm "Rußland [...] als stimmloses Forschungsobjekt" (S. 10) erscheint, hat der zweite Weg, den Verf. beschreiten will, eine Systematik zum Ziel, die "das russische interkulturelle Denken in seiner ganzen Spannweite präsentiert und es somit an der modernen Debatte teilnehmen läßt" (S. 10), um damit in neuer Weise sowohl einen Beitrag zum Verständnis des "russischen" wie auch des "interkulturellen" Philosophierens zu leisten. Verf. lässt sich von diesem Weg weder durch die Versuchung der Apologie noch der einseitigen Verwerfung abbringen, sondern verteidigt die russischen Denktraditionen und ihre Selbstreflexionen (S. 11) gegen ihre Verächter und ihre Propagandisten - ganz im Sinne interkulturellen Philosophierens: "Die Untersuchung der interkulturellen Grundlagen russischer Philosophie soll die Vorurteile über ihre Rückständigkeit beseitigen sowie ihre Ansprüche auf Überlegenheit zurückweisen. Die Geschichte der russischen Philosophie zeigt, daß die philosophische Kultur nicht im Singular, sondern im Plural zu denken ist als unhintergehbare Vielfalt der Ideen in gegenseitigem Austausch und gegenseitiger Konkurrenz" (S. 12).

Das Buch geht nicht chronologisch vor, sondern ist in fünf systematisch bestimmte Kapitel gegliedert. Zunächst stellt Verf. ."Paradigmen der vergleichenden Kulturforschung in Rußland" vor, und zwar von Aleksej Chomjakov, also einem der führenden frühen Slavophilen, über die Kulturtypologie und den Nationalismus Nikolaj Danilevskijs, Dostoevskijs Messianismus bis hin zum semiotischen Kulturmodell Jurij Lotmans -alles sehr knapp und gut verständlich (Kap. 1, S. 15-55). Im zweiten Kapitel wird dem "Apriori der Interkulturalität" und der "Suche nach kultureller Selbstidentifikation" nachgegangen: in den "typischen" (bis "stereotypischen") Modellen russischer Selbstdefmition, "Westlertum", "Slavophilentum", "Byzantinismus" und "Eurasiertum" (Kap. 2, S. 57-84). Das dritte Kapitel ist dem in der russischen philosophischen Denktradition immer präsenten, oftmals zentralen Problem der Erkenntnis, also der Epistemologie oder, wie es bei russischen Autoren meist heißt: der Gnoseologie, gewidmet: exemplarisch entlang von Ivan Kireevskij, Vladimir Solov'ev, den Vechi-Autoren sowie Pavel Florenskij (Kap. 3, S. 85-103). Im vierten Kapitel schließlich fragt Verf. noch einmal resümierend nach den "interkulturellen Grundlagen der russischen Philosophie" (Kap. 4, S. 105-115). Das fünfte und letzte Kapitel wirkt wie das Bonusmaterial auf einer DVD - es gehört nicht mehr zum Film. Hier fragt Verf. nach der Interkulturalität des sowjetischen Marxismus und lässt Lenin und Stalin zu Wort kommen. Verf. kommt zwar "Ad Marginem" zu der einzig erwartbaren Einschätzung, dass sich die Kultur- und die nationale Frage im Marxismus-Leninismus in die "Machtfrage" verwandeln und das so produzierte "Kulturkonzept" "nicht erläuternd, sondern konstitutiv und regulativ" ist (S. 129), es fragt sich aber grundsätzlich, ob heute und ohne Not der Ideologie des Verbrechens in einer kurzen Darstellung der russischen Philosophie Raum gegeben werden muss (schon die Kritik ist zu viel der Ehre). Da wäre es sicher sinnvoller gewesen, einen Ausblick auf die derzeit aktuelle Philosophie in Russland zu geben, also Autoren wie Michail Ryklin, Aleksandr Pjatigorskij oder Valerij Podoroga zu besprechen, die in Deutschland schon vor zwölf Jahren in dem verdienstvollen Sammelband "Orte des Denkens" (Ackermann; Raiser; Uffelmann 1995) vorgestellt worden sind und doch (leider) bis heute nicht den Bekanntheitsgrad haben, der ihnen eigentlich zukäme (Rezensent sagt dies auch selbstkritisch).

Es soll mit diesem Hinweis aber keine Krittelei über Literaturlücken begonnen werden, da das Buch im Ansatz genau die in der Bearbeitung russischen philosophischen Denkens oftmals fehlende Perspektive über die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hinaus einnimmt, indem, wie erwähnt, die Semiotik Lotmanns in Bezug gesetzt wird zu dem, was "traditioneller Weise" unter russischer Philosophie verstanden wird: Slavophile, Solov'ev und die russische religiöse Renaissance bis ca. 1930 bzw. in der Emigration bis zum Zweiten Weltkrieg.

Worin besteht, fundamental gedacht, der Beitrag der russischen zur interkulturellen Philosophie? Am Schluss des ersten, der vergleichenden Kulturforschung gewidmeten Kapitels resümiert Verf., dass die "Grundideen der interkulturellen Forschungen in Rußland innerhalb von zwei Jahrhunderten [...] in der Behauptung der Unmöglichkeit einer allgemeinmenschlichen Kultur, in der Unzulässigkeit der Identifikation der Weltgeschichte mit der westeuropäischen Geschichte sowie in der Verneinung eines absoluten Fortschritts und des Vorhandenseins allgemeingültiger Maßstäbe für den Kulturvergleich" bestehen (S. 52). Das ist zunächst nur negativ und führte in der russischen Philosophiegeschichte in vielen Fällen zu einem "Abwehrnationalismus" (S. 53), in dem sich bis zum 20. Jahrhundert der u. a. von Lotman kritisierte Dualismus des Eigenen und Fremden verfestigen konnte. Doch das gleiche Denken enthält auch die Potentiale einer z. T. unter phänomenologischem Einfluss entwickelten Dialogik, in der Jnterkulturalität [...] als Form der Existenz der Kultur überhaupt verstanden" werden konnte (S. 54). Den Antagonismen von "West" und "Ost", "Rom" und "Byzanz". "Rationalismus" und "ganzheitlicher Erkenntnis" usw. steht spätestens seit den Slavophilen die Idee und das Ziel der Ganzheitlichkeit des Erkennens und Lebens gegenüber und damit der Wille und der Wunsch nach einem integralen Kulturkonzept, das alle, auch seine eigenen Antagonismen überwindet. In diesem Kontext kann Michail Bachtins auf die Lektüre Dostoevskijs bezogene Polyphoniethe-se eingeordnet werden (S. 46), als deren philosophisches Gegenstück die Komparatistik des Petersburger Philosophen Anatolij Kolesnikov erscheint, den Verf. als Verfechter einer "überkulturellen Rationalität" vorstellt, die "einen interkulturellen Dialog ermöglichen müsse" und zu einem "neuen Typus der Einheit" führen solle, der "Unterschiede, Mannigfaltigkeit, nationale und regionale Spezifik modernen Philosophierens" berücksichtigt und jegliche Form von Monologismus, Isolationismus und Zentrismus ablehnt (S. 47). Zusammenfassend lässt sich vielleicht sagen, dass der besondere Beitrag der russischen Philosophie seit dem 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart darin zu sehen ist, das Ideal der Einheit (und des Universalen) unter der Voraussetzung der unbedingten Anerkennung von Differenz zu denken und zu vertreten. Unter dieser Maßgabe lässt sich eine innerrussische philosophische Kritik gegen alle Behauptungen nationaler Überlegenheit vorbringen - wie z. B. gegen den triumphalistischen Nationalismus Danilevskijs (und, - implizit -seiner aktuellen Epigonen), bei dem sich kognitive Urteile mit Werturteilen vermengten, die Kulturbeschreibung zur Bewertung von Kulturen (S. 25) und schließlich zu einer "geopolitischen Doktrin" wurde, die "sich durch Intoleranz, Nationalismus, Xenophobie auszeichnet" (S. 30).

Die Verwechslung von deskriptivem und evaluativem Urteil und die Verabsolutierung eigener nationaler Positionen erscheint als ein "begleitendes Übel" russischen Philosophierens, das seine eigenen integrativen Ansätze immer wieder unterläuft. Manchmal geht Verf. dabei mit ihren Autoren etwas, wie ich meine, zu streng ins Gericht. So z. B. im Falle des Sammelbandes "Vechi", der 1909 für Aufsehen und wütende Kritik, zugleich aber auch für eine regelrechte "Schulbildung" gesorgt hat: Mit den "Vechi-Autoren" ist inzwischen oft mehr eine Gattung gesellschaftsphilosophischen Denkens als eine bestimmte Zahl von Personen gemeint. Verf. rezipiert sie v. a. als antiwestliche Propagandisten eines neobyzantinischen Kulturmodells: "Die hier vorgestellten Vorstellungen reproduzieren im Grunde die alten Mythologeme über den besonderen Entwicklungsweg Rußlands, der mit der Umstellung der russischen Kultur auf die Grundlagen der orthodoxen Rechtgläubigkeit und der Selbstisolierung verbunden ist" (S. 95). Das ist natürlich nicht ganz falsch. Aber die 1909 aufgestellten "Wegmarken" lassen sich genauso gut auch als Fragen schockierter und beunruhigter Menschen in angespannter Zeit lesen: Fragen, die zu einer einzigen letztlich zusammenlaufen: der Frage nach dem Verhältnis von geistiger und materieller Kultur; gestellt ausHer, wie sich dann ja gezeigt hat nicht unberechtigten Angst, dass Zerstörungen auf mentaler Ebene zu Zerstörungen auch der sozialen und materialen Kultur führen können (und zwar in dieser Richtung eher und gravierender als umgekehrt). So oder so: Auf der Hauptlinie russischen philosophischen Denkens ist Interkulturalität als Ideal die Mitte zwischen Kulturrelativismus einerseits und der Verabsolutierung bestimmter, insbesondere nationaler Kulturen anderseits. Das Ideal ist die Einheit des Mannigfaltigen, in der die Differenz von Werthaltungen anerkannt und zugleich der Anspruch prinzipieller (universaler) Werte nicht aufgegeben ist.

Literatur
ACKERMANN, A.; RAISER, H.; UFFELMANN, D. (Hrsg.) 1995. Orte des Denkens: Neue russische Philosophie, Wien: Passagen Verlag.
KIMMERLE, H. 2002. Interkulturelle Philosophie zur Einführung, Hamburg: Junius.
MALL, R .A. 1995. Philosophie im Vergleich der Kulturen: Interkulturelle Philosophie. Eine neue Orientierung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Prof. Dr. Holger Kuße, Institut für Slavistik, TU Dresden, Zeunerstraße 1d, 01069 Dresden, Deutschland (Holger.Kusse@tu-dresden.de)


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