Hartmut Reinhardt


Ausfahrt in das fremde Dichterland. Goethes Werk interkulturell gelesen

Daß sich ein Autor, der für seine ausgeprägte ‚Welt-Neugier' bekannt ist, auch für fremde Kul-turen interessieren muß, kann nicht wirklich überraschen. Goethe hat allerdings erst im Alter interkulturelle Perspektiven literarisch zu formulieren versucht. In seinem Werk gibt es auch frühere Beispiele einer bloß vorgespiegelten, doch in der Sache nicht wirklich riskierten kulturellen Fremderfahrung zu bedenken wie König Thoas im berühmten Schauspiel "Iphigenie auf Tauris" (1787). Der vorgebliche Barbar, an dessen Reaktion Iphigenies Ethos der Wahrhaf-tigkeit seine Realitätsprobe zu bestehen hätte, erweist sich im Anschein des Skythisch-Unzivilisierten schließlich als von vornherein gewonnen für die Sache der humanen Gesittung - oder des Weimarer Praeklassizismus.

In der Altersdichtung versucht Goethe von der selbstverständlichen Bindung an die eurozentri-sche Kultur loszukommen. Deren Grenzen werden, trotz der Suggestion des neuen Begriffs, nicht überschritten in dem Konzept von "Weltliteratur", das Goethe seit 1826 in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift "Über Kunst und Altertum" entwickelt. Es zielt auf Spiegelungen, Vermittlungen und Interaktionen der einzelnen Nationalliteraturen, kann aber die Grenzen Euro-pas auf Grund der Informationslage nicht überschreiten. Das aber hat Goethe als Poet bewerk-stelligt in dem Gedichtzyklus des "West-östlichen Divan" (1819, erweitert 1827). Hier unter-nimmt der Dichter, gestützt auf die orientalistische Forschung seiner Zeit, eine Ausfahrt in die Welt des persischen Dichters Hafez (Hafis) im 14. Jahrhundert. Der moderne Lyriker sucht ei-nen zwischen Ernst und Spiel oszillierenden Gedichtstil zu entwickeln, der orientalische The-men, Bilder und Stilformen aufnimmt, so jedoch, daß sich darin das Eigene spiegeln, also über ein wirkliches Eindringen in das Fremde literarische Kommunikation ereignen kann. In der Ana-lyse des "Divan" wird der Versuch, Goethe in eine interkulturelle Sicht zu stellen bzw. ihn als ‚interkulturellen' Autor bei der Arbeit zu zeigen, seinen Schwerpunkt finden.

Zu erörtern sind aber auch früh einsetzende Versuche, durch Übersetzungen Zugang zu finden zu fremden Kulturen und Literaturen (schon aus der vorislamischen Zeit, aber auch aus Südame-rika), schließlich noch eine im Vergleich mit dem "Divan" bescheidenere, aber doch nicht ganz belanglose interkulturelle Ausfahrt im höchsten Alter: die "Chinesisch-Deutschen Jahres- und Tageszeiten" (1829), ein Zyklus aus 14 kleinen Gedichten, der trotz seiner eher improvisatori-schen Züge immerhin noch einmal dokumentiert, daß Goethe keine Fernen in Raum und Zeit scheut.


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