Peter Kühn

Interkulturelle Semantik

Interkulturelle Bibliothek, Band 38

Rezension


Im vorliegenden Buch von Peter Kühn - Professor für germanistische Linguistik und Deutsch als Fremdsprache an der Universität Trier - wird ein bis heute wenig erforschtes Gebiet der Interkulturellen Kommunikation, nämlich die Interkulturelle Semantik, behandelt. Interkulturell ist heute ein Regenbogenwort (9), das in der Wirtschaft, in der Politik und im Alltag eine Art Slogan geworden zu sein scheint, mit dessen Hilfe Probleme gelöst oder erklärt werden. Auch in den Wissenschaften werden Phänomene immer öfter interkulturell betrachtet. Ausgehend von den Sozialwissenschaften finden sich interkulturelle Betrachtungsweisenverstärkt auch in den Geisteswissenschaften.

Kulturspezifische semantische Probleme, bei denen durch Wörter bzw. Bedeutungen von Wörtern "soziokulturell eingespielte Einstellungen, Wertungen, Stereotypien, Ideologien usw. transportiert" werden, erfasst und diskutiert man unter dem Begriff "interkulturelle Semantik" (8).

In Kapitel 1 (Interkulturelle Kommunikation) erläutert der Autor die wichtigsten Aspekte der interkulturellen Kommunikation. ›Interkulturalität‹ und ›interkulturell‹ sind zwar sowohl im Alltagsleben als auch in wissenschaftlichen Arbeiten häufig vorkommende Begriffe, es mangelt aber bis heute an theoretisch und methodologisch fundierten Begriffserklärungen sowie an wissenschaftlicher Grundlagenforschung. Nach Ansicht von Kühn müssten sich interkulturell angelegte Forschungen folgenden Bereichen widmen: 1. kulturspezifischen Handlungen (z. B. Begrüßung), 2. Textanalysen authentischer Texte und 3. semantisch bedingten Kommunikationsproblemen (18-26). Letzteres bezieht sich auf den kulturspezifischen Wortgebrauch, wobei bei kulturspezifischen (und oft behandelten) Wörtern (z. B. Heimat, Schützenfest, Bundestag) auch darauf hingewiesen werden muss, dass selbst die Bedeutung von Wörtern, die anscheinend leicht zu übersetzen sind, von Kultur zu Kultur unterschiedlich sein kann, so dass man "von interkultureller Polysemie sprechen [könnte]" (27).

In Kapitel 2 (Interkulturelle Semantik: Hotwords in Critical-Incident-Situationen) werden semantische Probleme anhand eines Jugendbuches aufgezeigt. Critical-Incident-Situationen sind aus interkultureller Sicht konfliktbeladene Situationen, die eine spezielle Lösung benötigen bzw. die zu einem tatsächlichen Konflikt führen können. Hotwords sind Wörter mit kulturspezifischer Bedeutung. Da in der interkulturellen Kommunikation unterschiedliche Begriffssysteme aufeinandertreffen, kommt der Semantik der Wörter eine besondere Rolle zu. Anhand von Beispielen und Textstellen aus dem Buch werden derartige Wörter und Situationen thematisiert und erklärt. Die didaktischen Vorschläge zur Bewusstmachung solcher Situationen sind außerordentlich hilfreich bei der Gestaltung interkultureller Curricula.

Kapitel 3 (Kultursensitivität in Wörterbüchern des Deutschen) bringt Beispiele für Hotwords bzw. für Wörter mit kulturspezifischer Bedeutung aus einschlägigen einsprachigen deutschen Wörterbüchern. Die Beispiele zeigen, dass sich die meisten Wörterbücher bis heute an das "enzyklopädische Definitionsprinzip" (76) halten und sich mit kulturspezifischen Bedeutungen kaum bzw. gar nicht befassen. Neben dem Fehlen solcher Erläuterungen führt Kühn einen weiteren Mangel der Wörterbücher an: Sie sind oft irreführend, weil sie ein veraltetes Deutschlandbild präsentieren, aufgenommene Phraseologismen sind zudem oft zu klischeebeladen. Ein ähnliches Bild vermitteln die in den Wörterbüchern vorkommenden Kollokationen und Satzbeispiele: Bestimmte Informationen sind nur implizit enthalten, verschiedene sogar veraltet. Abhilfe schaffen die Anregungen zum Konzept eines kultursensitiven örterbuches.

Das Plädoyer für eine interkulturelle Semantik (Kapitel 4) zeigt anhand eines einzigen Wortes (Toleranz), wie ein kulturell brisanter Begriff in verschiedenen Texten und in Wörterbüchern aufscheint. Der Autor versieht das Wort mit semantischen Erläuterungen, wobei er überzeugend die Vorschläge und Anregungen der vorangegangenen Kapitel anhand dieses Beispiels praktisch umsetzt.

Dem vorliegenden Buch ist zu wünschen, dass es einen breiten Leserkreis findet. Im Buch werden aktuelle Probleme zusammentreffender Kulturen von einer anderen Seite her, und zwar der semantischen, vorgestellt. Jeder, der mit fremden Kulturen in Kontakt kommt (sei es im Rahmen einer Auslandsreise oder der Betreuung ausländischer Gäste oder als Auswanderer) sollte das Buch lesen, um sich der Existenz einer Interkulturellen Semantik bewusst zu werden. Neben dem Einsatz als Lehrmaterial an Hochschulen ist das Büchlein vor allem für Verfasser von Wörterbüchern, für Lexikographen und Linguisten von Bedeutung. Es ist zu hoffen, dass Kühns Plädoyer erhört wird und in künftigen Wörterbüchern bei den semantischen Erläuterungen auch verstärkt interkulturelle Differenzen Berücksichtigung finden.

László Kovács, Szombathely / Ungarn

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