Jens Mattern


Gedächtnis und Identität.
Paul Ricœur interkulturell gelesen

Die philosophische Hermeneutik Paul Ricœurs ist von dem Gedanken bestimmt, daß es allein über den Umweg einer Interpretation der kulturellen Zeichen und Werke möglich ist, zu einem Verständnis der Welt, aber auch des eigenen Selbst zu gelangen. Doch dieser Umweg impliziert eine grundlegende Pluralität der Deutungen, ja einen Konflikt der Interpretationen, der mangels eines Meta-Diskurses keine Aufhebung in einem abschließenden Selbst- und Welt-Verständnis erlaubt. Vor diesem Hintergrund kann gesagt werden, daß für Riœur die interkulturelle Dimension des Denkens bereits auf der Ebene der kultureller Existenz als solcher beginnt, insofern diese schon in sich wesentlich pluralistischer Natur ist und nur gewaltsam zentristisch zu deuten wäre oder über den Gedanken einer Aufhebung ihrer pluralen Dimensionen in einer geeinten universalen Menschheitskultur zu domestizieren wäre. Zeit seines Lebens hat Ricœur "die Unifizierung des Wahren" für eine "erste Fehltat", eine "erste Gewaltsamkeit" (Ricœur, Paul: Geschichte und Wahrheit, München 1974, S. 152) gehalten. Die folgende programmatische Stellungnahme Ricœurs verdeutlicht die interkulturelle Relevanz seines Denkansatzes:

"Als Odysseus seinen Zirkel vollendet hat und nach Ithaka, seiner Insel, zurückkehrt, kommt es zu Gemetzel und Zerstörung. Für mich ist die philosophische Aufgabe nicht, den Kreis zu schließen, Wissen zu zentralisieren oder zu totalisieren, sondern die nicht reduzierbare Pluralität von Diskursen offenzuhalten. Es ist wesentlich zu zeigen, wie die verschiedenen Diskurse verbunden sein können oder sich überschneiden, aber man muß der Versuchung wiederstehen, sie identisch zu machen, zum Selben." (Äußerung Ricoeurs in dem Interview "The Creativity in Language", in: Valdés, Mario J. (Hg.), Reflection and Imagination. A Ricoeur Reader, New York 1991, S. 472f.)

Die interkulturelle Perspektive der in diesem Buch vorgeschlagenen Deutung der hermeneutischen Reflexion Ricœurs kann über vier Eckpunkte bestimmt werden: Ontologie und Gedächtnis, Identität und Gerechtigkeit. Stellt die ontologische Perspektive auf das nur fragmentarisch deutbare Sein die sich durchhaltende Grundintention seines Denkens seine Denkens dar, so hat sich der jüngst im hohen Alter verstorbene Ricœur besonders in seinen letzten beiden Lebensjahrzehnten verstärkt den Fragen nach Gedächtnis und personaler Identität gewidmet und dabei stets die politische Dimension dieser Fragen mitreflektiert. So ist es sinnvoll, diese Aspekte als Fluchtpunkt einer aktuellen und interkulturell ausgerichteten Deutung zu wählen.


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