Claudia König-Fuchs

Egozentrismus im interkulturellen Kontext

Interkulturelle Bibliothek, Band 16

Rezension


Der interkulturelle Dialog wird uns in der nächsten Zeit sicherlich sowohl national als auch international beschäftigen.

Die Psychologin und Erziehungswissenschaftlerin Claudia KÖNIG-FUCHS hat in der Reihe Interkulturelle Bibliothek unter dem Titel Egozentrismus im interkulturellen Kontext einen Beitrag zu den Möglichkeitsbedingungen interkulturellen Lernens geliefert.

Den Hintergrund ihres Beitrags bildet vor allem die Entwicklungspsychologie Jean PIAGETS und deren Vorläufer bei den Pädagogen Jan Amos COMENIUS, Johann Heinrich PESTALOZZI und Johann Friedrich HERBART.

Der Beitrag ist durchaus "sperrig". Seine Sprache ist technisch und kompliziert. Sein Inhalt entspricht bewusst nicht dem Zeitgeist.

Der Zeitgeist geht davon aus, dass soziale Kompetenzen, Kommunikation und Empathie entscheidende Faktoren für das Gelingen des interkulturellen Dialogs seien. Claudia KÖNIG-FUCHS dagegen vertritt die These, kognitive Faktoren seien die entscheidenden. Sie fordert deshalb "eine "Pädagogik der Interkulturalität", die der Bildung des Verstandes Priorität einräumt gegenüber dem Training von sozial-emotionalen kommunikativen Kompetenzen" (S. 17 f.). Sie erwartet nicht vom Erlebnis und vom Umgang mit dem Fremden, sondern vom Verstehen des Fremden Fortschritte im interkulturellen Dialog. Dabei erkennt sie als Problem, dass Verstehen nicht automatisch zur Anwendung führt. Insofern räumt sie ein, dass kognitive Entwicklung eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für Interkulturalität sei (S. 21).

Als Lernhindernis macht sie den "Egozentrismus" im PIAGET'SCHEN Sinne aus. Jean PIAGET hat die derzeit gängigste Theorie zur kognitiven Entwicklung vorgelegt. Nach Jean PIAGET besteht kognitive Entwicklung nicht im quantitativen Erwerb von Wissen, sondern im Durchlaufen verschiedener Entwicklungsstadien, die sich durch die Qualität des Denkens unterscheiden. "Egozentrismus" ist in dieser Theorie ein Kennzeichen früher Entwicklungsstadien, in denen das Kind noch nicht die Perspektive einer anderen Person einnehmen kann. Er ist gekennzeichnet durch die Unfähigkeit (1) zur Synthese, (2) von anderen Perspektiven zu lernen, (3) zur Objektivität, (4) zum Gebrauch der Sprache als Mitteilung des Gedankens an den anderen Menschen. Unter Egozentrismus wird also ausdrücklich ein intellektuelles, und kein moralisches oder klinisches Phänomen verstanden. Dieser kognitive Egozentrismus wird erst im Laufe der kognitiven Entwicklung durch den Erwerb der Fähigkeit, hypothetisch zu denken, überwunden.

Im zentralen Kapitel des Beitrags wird der so verstandene Egozentrismus als "Denkhindernis für die Aneignung des Ich-Fremden" (S. 60) beschrieben. Genauer heißt es: Egozentrismus sei ein "Zustand geistiger Unordnung" (S. 63), ein "Lemhindernis" (S. 74), ein "Hindernis zur Erkennung und Anerkennung einer ich-anderen Realität' (S. 83), ein "Moralitätshindernis" (S. 89), ein "Hindernis für die Gedankendarstellung und den rationalen Diskurs" (S. 95), und daher in der Summe ein "Hindernis für Interkulturalität" (S. 106). Dieser kognitive Egozentrismus werde dementsprechend durch "Beförderung des Denkens" überwunden (S. 59). Diese Aufgabe wird der Pädagogik zugewiesen (S. 120).

Den Abschluss des Beitrags bildet die Diagnose, die Pädagogik sei mit dieser Aufgabe nach ihrem gegenwärtigen Selbstverständnis überfordert. Sie verstehe sich nämlich derzeit nicht als Wissenschaft, sondern als "Praxeologie" oder sie betreibe "die Reflexion eigener Diskurse" (S. 121). Claudia KÖNIG-FUCHS plädiert angesichts dieser Lage für ein Anknüpfen an das Selbstverständnis von Pädagogik, das von COMENIUS über PESTALOZZI bis HERBART reicht und die höchst mögliche Form von Rationalität zum Ziel hat. Die Aufgaben einer solchen rationalen Pädagogik - die Autorin spricht in diesem Zusammenhang, in dem auch an Erwachsene als Adressaten zu denken ist, präziser von Andragogik - werden im letzten Kapitel aufgelistet.

Claudia KÖNIG-FUCHS stellt die Diagnose, dass der Egozentrismus als kognitives Phänomen ein Haupthindernis im Bemühen um Interkulturalität ist und fordert daher eine Andragogik, die die kognitive Entwicklung befördert. Entwicklungsanstöße verspricht sie sich wiederum von der kognitiven Ebene.

Hier stellt sich aber - nicht zuletzt mit Jean PIAGET - die Frage, ob die Autorin die wechselseitigen Bedingungen von Denken, Fühlen und Handeln nicht unterschätzt. Kognitive Entwicklung ist neben der affektiven und sozialen Entwicklung (nur) ein Entwicklungsstrang in der Entwicklung des Ichs oder der Person. Die unterschiedlichen Entwicklungsstränge bedingen sich auf vielfältige Weise gegenseitig. Das klingt an einigen Stellen des Beitrags auch an, wird aber im Gesamt wohl doch nicht ausreichend berücksichtigt.

Markus WASSERFUHR, Mettmann


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